Jo Leinen verlässt das EU-Parlament Von einem, der von Europa nicht lassen kann

Saarbrücken · Der Umweltpolitiker Jo Leinen war 20 Jahre lang saarländischer Abgeordneter im EU-Parlament. Durch die SPD-Verluste verlor er seinen Sitz.

 Der ehemalige EU-Abgeordnete und SPD-Politiker Jo Leinen will auch künftig der Europa- und Umweltpolitik treu bleiben.

Der ehemalige EU-Abgeordnete und SPD-Politiker Jo Leinen will auch künftig der Europa- und Umweltpolitik treu bleiben.

Foto: Robby Lorenz

Wie schmerzhaft ist für einen, der insgesamt 40 Jahre im politisch medialen Rampenlicht stand, der – eher unfreiwillige – Rück­zug ins Private? Das schlechte Abschneiden der SPD bei der EU-Wahl beschied auch Jo Leinens politisches Schicksal. Zumindest muss er nach 20 Jahren seinen Abgeordneten-Platz im Europaparlament räumen. Als „etwas ungerecht“  bezeichnet er denn auch das Verfahren seiner Partei, der SPD, den Listenplatz 16 des Saarlandes mit dem Bremens (20) wegen der dortigen Wahl zu tauschen. „Ich hätte gerne noch eine Legislaturperiode daran mitgearbeitet, dass das europäische Projekt nicht durch Rechtspopulisten zerstört wird“, räumt er ein. Mit Leinen verliert das Saarland nach der CDU-Politikerin Doris Pack (2014) vorläufig auch den letzten Vertreter aus der Region in Brüssel. Seine  Enttäuschung sucht der 71-Jährige zu verbergen – wenn auch nicht ganz erfolgreich. Wie auch soll das möglich sein bei einem, der sagt: „Die Politik ist ein süßes Gift.“ Wer jahrzehntelang im Überfluss von diesem süßen Gift kosten durfte, der kann freilich nicht von ihm lassen. „Weil man“, so spricht der medienversierte Politiker, „permanent gefordert ist und sich mit Problemen, die für die Gesellschaft wichtig sind, beschäftigen kann.“ Ob und wie sehr dieses süße Gift manche Politikerpersönlichkeiten berauschen kann – Otto Normalverbraucher erfährt das allenfalls mal aus den Medien. Leinen aber lässt darüber wenig durchblicken. Der Rausch, so scheint es, heißt bei ihm Europa.

So viel jedenfalls dürfte sicher sein: Eine Entziehungskur wird es nicht geben, schon gar keinen harten Entzug. Und kein Wort über Ruhestand. Deshalb fallen die Antworten auf die privaten Zukunftsvisionen im ersten Moment eher dürftig, wenig aufsehenerregend aus. Mit dem Elektrofahrrad Touren machen, viele Wanderungen – vor allem in den Bergen, den Alpen, die er so liebt. Alte Freundschaften, manche sträflich vernachlässigt, wiederbeleben und pflegen. Und reisen, ja, freilich: „Ich will Europa noch mal neu kennenlernen, nicht als Politiker, sondern einfach als Mensch.“ Sehnsuchtsort Europa, für den Vollblutpolitiker der „schönste und kulturell reichste Kontinent der Welt, der alles bietet, was das Herz begehrt.“ Könnte es ein schöneres Kompliment geben für diesen Erdteil, der von manchem Weltpolitiker als „alte Welt“ verschmäht wird?

Nicht dass Leinen der Rest der Welt nicht schert. Im Gegenteil: Schon lange blickt er nach China, der „neuen Großmacht“. Im EU-Parlament war er seit 2014 Chef der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik. Künftig möchte er Studenten aus China ins saarländische Otzenhausen bringen, um ihnen in der dortigen Akademie das Projekt Europa in „First-Class-Kursen“ nahezubringen.

 Demo gegen Atomwaffen vor dem Verteidigungsministerium in Bonn 1983:  Beamte tragen Leinen weg.

Demo gegen Atomwaffen vor dem Verteidigungsministerium in Bonn 1983:  Beamte tragen Leinen weg.

Foto: picture alliance/AP/AP Content

Schon seit Kindertagen treibt ihn ein grenzenloses Europa um, genauer: seit der Silvesternacht 1957, dem Saarland-Anschluss, als von einem Tag auf den anderen eine Grenze Leinens Familie in Bisten und im lothringischen Merten trennte. „Wir konnten auch nicht rüber zu unseren Verwandten, weil wir keinen Kinderpass hatten“, erinnert er sich. Dort, wo die Kinder im Wald einst Räuber und Gendarm spielten, gab es plötzlich eine Trennungslinie. „Diese Grenze muss weg, dachte ich schon damals.“ Sie beschäftigte ihn offenbar so sehr, dass er ihr in der Schule einen Aufsatz mit dem Titel „Abenteuer entlang der Grenze“ widmete. „Mit diesem Thema hatte ich damals meine beste Deutscharbeit auf dem Gymnasium geschrieben“, erzählt er stolz. Das Heimatdorf Bisten hat ihn auch umweltpolitisch geprägt: das „grenzenlose Naturvergnügen“ dort, das im Kontrast stand zur verschmutzten Luft in Städten wie Bonn und Saarbrücken, wo Leinen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studierte.

So wurde der Saarländer gewissermaßen zum Umweltpolitiker der ersten Stunde, wie auch zu einem Urgestein der Friedensbewegung: Bereits 1979 war er Mitbegründer der Bürgerinitiative Umweltschutz Bonn (BBU), ein Jahr später Sprecher des BBU-Bundesverbandes. Eine hochaktive Zeit nennt der ehemalige Vorzeige-68er auch die von Demonstrationen gegen Atomkraft geprägten Jahre ab 1975. Von da an war er einer der Wortführer der sich zuspitzenden Protest-Aktionen. So etwa im Herbst 1977, als es um den Bau des „Schnellen Brüters“ in Kalkar ging. Bekannt wurde Leinen zwischen 1979 und 1983 vor allem als Sprecher der Friedensbewegung für ein atomwaffenfreies Europa.

Es sollte auch ein Wendepunkt im Leben von Jo Leinen werden. Für eine große Demo in Bonn wurde 1983 ein sozialdemokratischer Redner gesucht. Leinen schlug den damaligen Saarbrücker Oberbürgermeister Oskar Lafontaine vor und fuhr nach Saarbrücken, um die Aktion vorzubereiten. Lafontaine fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, in der Landesregierung mitzuwirken. Als die SPD 1985 die Wahlen im Saarland gewann, wurde Leinen in Lafontaines Kabinett Umweltminister (bis November 1994). Leinens Sprung von der außerparlamentarischen Opposition in ein Regierungsamt galt just in dieser Zeit ein höchst umstrittener Seitenwechsel. Aber: „Ich war damit der Eisbrecher für die Umweltbewegung, sich auch in den politischen Institutionen zu betätigen“, sagt Leinen. Am Wahlabend im Marz 1985 sollte er denn auch die Quittung für den Wechsel bekommen: Radikale Autonome warfen ihm eine Schwarzwälder Kirschtorte ins Gesicht.

  Am Wahlabend im März 1985 wird Leinen von Autonomen im Saar-Landtag mit einer Torte beworfen .

Am Wahlabend im März 1985 wird Leinen von Autonomen im Saar-Landtag mit einer Torte beworfen .

Foto: picture alliance/AP/AP Content

Immer wieder kam es auch zu Rivalitäten zwischen Lafontaine und Leinen: „Oskar wollte immer der Erste und Beste sein“, erinnert sich der Köllerbacher. Nachdem ihn Lafontaine 1994 nicht mehr ins Kabinett berufen hatte, wurde er 1995 Mitglied im Ausschuss der Regionen der Europäischen Union, 1999 Abgeordneter im EU-Parlament. Neben der Mitgliedschaft in unzähligen Ausschüssen und Organisationen war er der Initiator der Intergroup „Europäische Verfassung“. Der einstige Held der Friedens- und Umweltorganisation blickt indes zufrieden zurück: „Von damals bis heute hat sich glücklicherweise ein großes Umweltbewusstsein entwickelt.“ Nicht genug, gewiss. Doch dass die Jugend jetzt „aufgewacht ist“, macht ihm große  Hoffnung.

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