Interview Gesellschaftspsychologe Thomas Kliche zur Corona-Krise „Wir sollten alle etwas Nachsicht haben“

Berlin · Der Gesellschafts- und Politikpsychologe rät in Zeiten von Corona-Krise und Kontaktbeschränkungen dazu, nicht überzureagieren.

 Der Gesellschafts- und Politikpsychologe Thomas Kliche

Der Gesellschafts- und Politikpsychologe Thomas Kliche

Foto: Kliche/Privat

Die Polizei verzeichnet verstärkt Meldungen von Bürgern, wenn andere gegen Corona-Regeln verstoßen. Es gibt sogar Politiker, die zu solchen Hinweisen aufrufen. Ist das okay oder schon Denunziantentum? Für den Gesellschafts- und Politikpsychologen Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal hat das Eintreten für Regeln vor allem etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Auch in der Corona-Krise.

Herr Kliche, es heißt, viele Menschen werden in der Krise zu Denunzianten. Stimmt das?

THOMAS KLICHE Das sind doch bislang wenige, schon weil die meisten Menschen sich an die Regeln halten, und weil die Ämter einer Flut von Meldungen gar nicht nachgehen könnten. Aber auch der Ausdruck ist irreführend. Bei Einschränkungen wird Menschen Fairness noch wichtiger als sonst, damit die Last einigermaßen gleichmäßig verteilt und das Wohl der Gruppe gewahrt wird. Wer also für die Einhaltung der Regeln eintritt, tut das oft aus Gerechtigkeitsgründen.

Sollten die Bürger denn Corona-Regelbrecher melden oder nicht?

KLICHE Sie sollten abwägen. Wenn jemand andere Menschen gefährdet, etwa als Pulk im Seniorenpflegeheim aufkreuzt, dann müssen wir eingreifen. Wenn jemand mit seiner Familie ein wenig Auslauf im Park sucht, sind Zurechtweisungen doch menschlich ärmlich und medizinisch ungerechtfertigt. Also mitdenken und Leben schützen! Das ist der Kern der Sache, nicht kleinliche, wichtigtuerische Kontrolle.

Also gibt es eine Grenze zwischen Zivilcourage und Denunziantentum?

KLICHE Es gibt gute und schlechte Gründe für vernünftiges Verhalten, aber auch für unvernünftiges. Faustregel: Was man engstirnig und dogmatisch macht, richtet Schaden an. Wer sich zum Hobby macht, andere zu maßregeln, wird langfristig zumeist auch die Sache schädigen. Wer freundlich und engagiert lebt, kann sich mit anderen ja in der Regel verständigen.

Gibt es spezielle Charaktere, die besonders mit Argusaugen auf andere achten?

KLICHE Gewiss. Wer zwanghaft an Regeln hängt, weil jede Neuheit oder Individualität Angst auslöst, oder wer unter dem Vorwand von Regeln gerne andere herumkommandiert, der wird Widerstand auslösen. Wir sollten aber alle etwas Nachsicht haben. Denn in Krisen neigen die meisten Menschen zur so genannten autoritären Reaktion: Sie wünschen sich klare Regeln, eine einige und starke Gruppe, eine durchsetzungsfähige Führung und ein überschaubares Weltbild mit einfachen Entscheidungen und rasch machbaren Lösungen.

Welche Rolle spielt, dass bei vielen Menschen daheim die Nerven inzwischen blankliegen?

KLICHE Wir merken unser „Unbehagen in der Kultur“, wie Sigmund Freud das nennt, wenn wir unsere Triebregungen zugunsten des Zusammenlebens zurückhalten müssen. Je enger wir aufeinander angewiesen sind, je dichter die Normen gestrickt sind und je weniger wir mit ihnen vertraut sind, desto anstrengender wird Zusammenleben. Und das macht einfach gereizt, gerade in kleinen Wohnungen mit pubertierenden Kindern und geringer langjähriger Übung in Selbstreflexion und Selbststeuerung. Aber Menschen sind auch schlau und flexibel, das gelingt mit etwas Übung überwiegend einigermaßen gut.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort