Serie: „Vorsicht! Gefahren im Saarland“: Polizei nimmt gefühlte Kriminalität enrst „Die Polizei kann nicht gegen das Straßenbild vorgehen.“

Serie | Saarbrücken · Die Sicherheitslage im Saarland ist keineswegs schlecht, sagt die Kriminalitätsstatistik. Doch der Bürger fürchtet sich. Steckt vielleicht etwas ganz anderes hinter der Angst vor Verbrechen?

 Müll ist nicht gefährlich, aber er macht Angst, weil er zeigt: Die soziale Kontrolle fehlt. Bürger fühlen sich in einem rechtsfreien Raum.

Müll ist nicht gefährlich, aber er macht Angst, weil er zeigt: Die soziale Kontrolle fehlt. Bürger fühlen sich in einem rechtsfreien Raum.

Foto: BeckerBredel

„Die Oma, die auf dem Nachhauseweg vom Markt von einer Jugendbande überfallen wird, habe ich in  all den Jahren meiner Dienstzeit nie erlebt“:  Und die dauerte 41 Jahre für Werner Michaltzik (67), zuletzt Leiter der Polizeiinspektion in Völklingen. Trotzdem machte er sich dort 1998 für einen der ersten Sicherheitsbeiräte des Saarlandes stark. Das Gremium besteht noch heute: Ein Kummerkasten für die Sorgen der Bürger, zugleich ein Objektivierungs-Forum, denn Beschwerden und Anliegen werden mit  Experten-Erkenntnissen abgeglichen.

  „Wir im Sicherheitsrat nehmen nicht allein die Statistik zum Maßstab, wir sind zuständig für das Sicherheitsgefühl“, sagt Michaltzik. Denn objektiv gesehen habe der Völklinger sowieso keinerlei Grund zur Beunruhigung. Tatsächlich liegt Völklingen in der Saarland-Statistik, die die Häufigkeit der Straftaten pro 100 000 Einwohner angibt, auf Platz sieben. Auf den ersten drei Plätzen: Saarbrücken, Dillingen, Saarlouis. Doch was sagt das aus? Viel über die real vorhandene Bedrohungslage und nichts über die „Kriminalitätsfurcht“ der Bürger. Die ist längst als Phänomen ein Thema für die Kriminalitätssoziologie und Präventionsforschung.

Besonders im Fokus: Das Kriminalitätsfurcht-Paradoxon. Das besagt, dass Kriminalitätsfurcht am stärksten bei Personengruppen auftritt, die am wenigsten von Kriminalitätsrisiken betroffen sind, wie zum Beispiel bei Frauen und älteren Menschen. Das wird damit erklärt, dass sich diese Gruppen ihrer Verletzlichkeit (Vulnerabilität) sehr bewusst sind. Sie wissen, dass sie kaum Verteidigungs-, und Vermeidungsmöglichkeiten haben. Diese Einschätzung teilt Natalie Grandjean, die stellvertretende Chefin des Landespolizeipräsidiums: „Laut objektiver Sicherheitslage in allen Statistiken sind Frauen und ältere Menschen nicht überdurchschnittlich betroffen, sie fühlen sich aber gefährdet.  Dem hingegen fühlen sich jüngere Männer sicher, werden laut Statistik aber am häufigsten Opfer von Straftaten oder sind in sie verwickelt.“ Faktoren, die die Kriminalitätsfurcht beeinflussen sind, das sagen Studien, Alter, Bildungsstatus und Einkommenssituation. Warum das so ist, wird jedoch kaum überzeugend erklärt. Eine höhere Bildung scheint ebenso vor Unsicherheitsgefühlen zu schützen wie eine bessere materielle Situation. So haben Personen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss größere Furcht, wenn sie nachts alleine auf der Straße sind. Und noch ein Kuriosum: Menschen mit Migrationshintergrund haben eine doppelt so hohe Kriminalitätsfurcht wie Menschen ohne Migrationshintergrund.

Ist das alles nur Psychologie, kein Thema für die Polizei? Falsch. Polizeivizepräsidentin  Grandjean erklärt: „Die Kriminalitätsfurcht ist für die Polizei selbstverständlich relevant. Das ergibt sich aus dem Gewaltmonopol des Staates und dem Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger. Es geht also nicht darum, dass es realiter so ist, dass Menschen weitgehend unbehelligt bleiben von Übergriffen. Sie müssen auch daran glauben, dass sie sich sicher fühlen können.“

 Von der Polizei als „gefährlicher Ort“ eingestuft: die Saarbrücker Johanneskirche. Dort trifft sich so genannte „Randständige“.

Von der Polizei als „gefährlicher Ort“ eingestuft: die Saarbrücker Johanneskirche. Dort trifft sich so genannte „Randständige“.

Foto: BeckerBredel

Seit Jahren schon wird das Thema in Studien und durch Umfragen aufbereitet. Für das Saarland liegt keine eigene Studie zur Kriminalitätsfurcht vor, auch keine sogenannte Dunkelfeldstudie. Letztere leuchtet aus, wie viele Menschen überhaupt mit Straftaten in Berührung kommen. Das sind nämlich mehr als die offizielle Polizeistatistik erfassen kann, denn viele Straftaten werden gar nicht angezeigt. In Bearbeitung befindet sich allerdings eine „kriminologische Regionalanalyse“ für Saarbrücken. Innenminister Klaus Bouillon siht darin die Chance, erstmals „klare und objektive Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik in Beziehung zu den Einschätzungen und Gefühlen der Bürgerinnen und Bürger aus Saarbrücken“ setzen zu können, „um daraus wichtige Erkenntnisse für Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheitslage zu ziehen.“

So bleiben denn der saarländischen Polizei für eine seriöse Argumentation bis auf weiteres nur die Fakten der  Kriminalstatistik. Und deren Aussage ist eindeutig: „Generell ist die Sicherheitslage im Saarland eine gute. Es gibt keinen Anlass zu besonderer Besorgnis“, so Grandjean. Bundesweit ging die Zahl der Straftaten 2020 um 2,3 Prozent zurück, auf Landesebene jedoch um starke 8,5 Prozent. Und während sich die Aufklärungsquote bundesweit nur um 0,9 Prozent verbesserte, legte das Saarland um 3,8 Prozent zu: 57,8 Prozent aller Delikte werden hier zu Lande aufgeklärt.

Gefahren im Saarland: So klaffen Statistik und Bürger-Empfinden auseinander
Foto: SZ/Müller, Astrid

Ausreißer gibt es dennoch, insbesondere im Feld der Straftaten gegen das Leben, beispielsweise Mord oder fahrlässige Tötung: 46,7 Prozent plus im Jahr 2020. Es sind dies Taten, die eine hohe mediale Aufmerksamkeit haben, und die die Bürger besonders alarmieren. Auch die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erhöhte sich um knapp 24 Prozent, wobei die Zahl der Vergewaltigungen (74) und sexuellen Nötigung (149) relativ konstant blieb. Doch beim Blick auf vermeintlich steigende oder fallende Zahlen von registrierten Straftaten sollte man wissen: Je mehr Polizeikontrollen es gibt und je mehr Menschen aus welchem Grund auch immer Strafanzeigen aufgeben, umso höher fällt die Quote aus, die womöglich – völlig grundlos – einen Anstieg suggeriert und ängstlicher macht.

 Ein weiterer Indikator für die von der saarländischen Polizeispitze als undramatisch erachtete Sicherheitslage: Bei der Quote, die die Zahl der Straftaten pro 100 000 Einwohner im Vergleich der Bundesländer angibt, liegt das Saarland, etwa zusammen mit Thüringen oder Niedersachsen, im mittleren Block, dort allerdings weit oben. Landespolizei-Vizepräsidentin Grandjean erklärt das so: „Wir sind deshalb so weit oben, weil das Saarland als kleinstes Flächenland eine starke Verstädterung besitzt, ähnlich wie die Städte der Spitzengruppe Berlin, Hamburg oder Bremen. Über 40 Prozent aller Straftaten im Saarland entfallen auf Saarbrücken und den Regionalverband.“ Hinzu komme, dass die Quote pro 100 000 Einwohner gerechnet werde, in das Saarland jedoch überdurchschnittlich viele Menschen einpendelten,  sich hier also täglich viel mehr Menschen aufhielten als die Statistik erfasse.

Solcherart Finessen erschließen sich dem Bürger nicht, wenn er seit 2013 regelmäßig liest, dass Saarbrücken einen Spitzenplatz einnimmt in der bundesweiten Analyse des Bundeskriminalamtes (PKS), die Verbrechen in allen 81 Großstädten untersucht. In der Rubrik „Häufigkeitszahlen“ für Verbrechen steht Saarbrücken auf Platz vier, bei manchen Straftaten gar auf Platz eins: gefährliche und schwere Körperverletzung, Laden- und Auto-Diebstahl und Gewaltkriminalität.

Just an diesem Punkt finden dann doch einmal Kriminalitätsfurcht und Realität passgenau zusammen. Denn in Saarbrücken  – wie auch in Neunkirchen –  hat die Polizei tatsächlich sogenannte „gefährliche Orte“ im Sinne des Saarländischen Polizeigesetzes (SPolG)  definiert. An diesen Orten muss es sich bei den entsprechenden Delikten um Straftaten von „erheblicher Bedeutung“ handeln, dann kann die Polizei mehr und intensivere Kontrollen durchführen oder auch Videoüberwachungen installieren, so geschehen an der Saarbrücker Johanneskirche. Dort sammeln sich trotzdem immer wieder Randständige: Menschen mit Drogen- und Alkoholproblemen, Obdachlose.

Die dürfen sich dort auch ganz legal aufhalten. Grandjean: „Die Polizei verfolgt Kriminelle. Gegen das Straßenbild kann sie nicht vorgehen.“

Doch offensichtlich geht es bei Kriminalitätsfurcht oft genau darum. Längst lautet eine Kern-Erkenntnis der Kriminalsoziologie: Städtischere Gebiete werden als furchteinflößender eingestuft als weniger urbane Wohnorte. Der Grund: Städtische Wohngebiete weisen oft Merkmale von Verwahrlosung auf, die mit Kriminalität assoziiert werden: Müll, Graffiti, ungepflegte Grünanlagen. Auch soziale Umstände lösen Unsicherheitsgefühle aus: Betrunkene, lärmende Jugendliche, Männergruppen. Menschen werden dann schnell zu sozialen Ärgernissen, aber sind sie auch gefährlich?  

Steffie Dumont, Stellvertretende Leiterin der Direktion II Kriminalitätsbekämpfung beim Landeskriminalamt, sagt: „Man sollte immer analysieren: Handelt es sich tatsächlich um ein Sicherheitsproblem oder geht es um soziale Verunsicherung? Für viele Menschen sind optische Signale wichtig. Dreckige Straßen oder heruntergekommene Häuser sehen viele als Zeichen dafür, dass die soziale Kontrolle fehlt oder dass niemand mehr die Regeln durchsetzt. Oft redet man über Sicherheitsprobleme, doch eigentlich fühlt man sich nicht mehr wohl mit dem Sozialleben.“

Es gibt ihn also, den „Angstraum Innenstadt“. Und wer sich fürchtet, zieht sich zurück. Das Ergebnis: noch mehr Verwahrlosung. Das Berliner Forum Gewaltprävention 2020 hat diese Zusammenhänge empirisch aufgearbeitet und kam zu dem verblüffenden Ergebnis: Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist Kriminalitätsfurcht ein „überschaubares Phänomen“. Eine These, die die regelmäßige repräsentative Studie „Die Ängste der Deutschen“ der R+V Versicherung vollumfänglich stützt. „Angst vor Kriminalität“ rangiert dort auf Platz 20, weit, weit hinten, auf dem drittletzen Platz.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort