Bund will einheitliche Regelung ab Inzidenz von 100 Steht das Saarland-Modell auf der Kippe? – Ausgangsbeschränkungen im Gespräch

Update | Saarbrücken/Berlin · Bund und Länder wollen eine bundesweit verbindliche Notbremse ab einer Inzidenz von 100 auf den Weg bringen. Dafür wollen sie das Bundesinfektionsschutzgesetz ändern. Das würde sich auch auf die Lockerungen im Saarland auswirken.

Bund-Länder-Beratungen über Corona-Regeln: Saarland-Modell auf Kippe?
Foto: dpa/Christoph Soeder

Bund und Länder streben gemeinsam eine stärkere Vereinheitlichung der Corona-Schutzmaßnahmen an. Künftig soll es bundesweit einheitliche gesetzliche Regelungen für den Fall geben, dass der Inzidenzwert in einem Landkreis über den Wert von 100 steigt, teilte Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag in Berlin mit. Bund und Länder hätten sich „in engem Einvernehmen“ auf diese Regelung verständigt, die für Montag geplante Ministerpräsidentenkonferenz zur Corona-Pandemie sei abgesagt.

Bund und Ländern gehe es nun darum, die anvisierte Neuregelung „so schnell wie möglich umzusetzen“, sagte Demmer. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes solle bereits am Dienstag auf einer vorgezogenen Kabinettssitzung verabschiedet werden.

Das Vorgehen sei mit den Koalitionsfraktionen im Bundestag abgestimmt, sagte die Vizeregierungssprecherin weiter. Mit den anderen Fraktionen im Bundestag werde die Bundesregierung über das geplante Vorgehen „das Gespräch suchen“. Zu Details der geplanten Neuregelung wollte sich Demmer nicht äußern - etwa zu der Frage, ob die anvisierte einheitliche Notbremsen-Regelung eine verpflichtende Schließung der meisten Geschäfte bei einem Inzidenzwert von über 100 vorsieht. Über Einzelheiten werde die Bundesregierung „ganz bestimmt zeitnah informieren“, sagte Demmer lediglich. Sie hob das große Einvernehmen zwischen Bund und Länder hervor. Sie hätten „hier auf das engste zusammengearbeitet", sagte sie. „Es sind alle Beteiligten mit im Boot.“

Die anvisierte bundeseinheitliche Regelung zur Corona-Notbremse solle für die Bürgerinnen und Bürger mehr „Klarheit und Transparenz“ bringen, sagte Vize-Kanzler Olaf Scholz (SPD). Die Bürger müssten die Corona-Schutzmaßnahmen „nachvollziehbar“ verstehen können und „zugleich darauf vertrauen, dass sie überall eingesetzt werden“. Ziel sei dabei: „Alle müssen wissen, woran sie sind.“

SPD-Bundesvize Serpil Midyatli hat das Vorgehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Corona-Pandemie scharf kritisiert. „Die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes zeigt, dass Angela Merkel die CDU-Ministerpräsidenten nicht mehr im Griff hat“, erklärte Midyatli am Freitag in Kiel. „Die Kanzlerin hat große Mitschuld an der aktuellen Lage.“ So habe sie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Impfstoffbeschaffung ausgebremst und die flächendeckende Einführung von Schnelltests verzöget. „Auch das Scheitern der letzten Ministerpräsidentenkonferenz geht maßgeblich auf ihr Konto.“

Ungewöhnlich an dem Vorhaben ist vor allem die Art seines Zustandekommens: Bund und Länder einigten sich in den vergangenen Tagen gemeinsam auf die Gesetzesänderung, ohne dass von den Beratungen etwas an die Öffentlichkeit gelangte. Das ursprünglich für Montag angesetzte Corona-Treffen von Bundeskanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten wurde abgesagt.

Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) hat empört auf die Absage reagiert. „Damit zerstört man das Ansehen der Ministerpräsidentenkonferenz in der Öffentlichkeit. So kann man mit diesem Entscheidungsgremium nicht umgehen“, sagte Ramelow am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. „Das macht mich nur noch fassungslos.“ Er habe von der Entscheidung, die vor Ostern vereinbarte nächste Runde von Kanzlerin Merkel mit den Ministerpräsidenten ausfallen zu lassen, zunächst nur aus den Medien gehört. „Wenn wir zur Staffage werden für ein Schauspiel, dass sich offenbar innerhalb der Union abspielt, ist das für die Pandemiebekämpfung ein Bärendienst.“ Bei der jetzt im Eilverfahren geplanten Nachschärfung des Infektionsschutzgesetz würden die Bundesländer gebraucht, so Ramelow. „Zu glauben, dass man das gegen die Länder durchsetzen kann, macht keinen Sinn.“ Thüringens Regierungschef bekräftigte seine Haltung, dass es bei der Pandemie-Bekämpfung bundeseinheitliche Regelungen geben müsse. „Seit Februar schuldet uns das Kanzleramt einen einheitlichen Stufenplan für Deutschland.“ Thüringen ist seit Monaten das Bundesland mit der höchsten Sieben-Tage-Inzidenz bei Corona-Neuinfektionen.

Eine Verschiebung der Ministerpräsidentenkonferenz hatte sich zuvor bereits angedeutet. Sie wurde auch durch einen Vorstoß der Spitzen der Koalitionsfraktionen im Bundestag nötig. Die Fraktionschefs Ralph Brinkhaus (CDU) und Rolf Mützenich (SPD) sowie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte in einem Brief an die Kanzlerin und den MPK-Vorsitzenden, Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), eine Bundestagsdebatte noch vor der nächsten Bund-Länder-Runde verlangt. Sie hatten dazu eine Regierungserklärung oder eine Debatte im Parlament vorgeschlagen. Der Bundestag kommt wieder planmäßig vom kommenden Mittwoch bis Freitag zusammen.

Nach Darstellung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lässt sich das Infektionsschutzgesetz in kürzester Zeit ändern. „Es kann schnell gehen, wenn die Beteiligten alle wollen“, sagte der CDU-Politiker am Donnerstagabend im ZDF-„Heute Journal“. Zur Not könne dies sogar in einer einzigen Sitzungswoche passieren.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Gründe) hat die Wende bei der Corona-Strategie von Bund und Ländern begrüßt. Kretschmann sagte am Freitag in Stuttgart: „Wir haben schon mehrfach signalisiert, dass wir einen Rahmen, der länderübergreifend bei bestimmten Punkten für mehr Einheitlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Rechtssicherheit sorgt, für sinnvoll und notwendig erachten.“ Man finde es deshalb absolut richtig, die Regeln der Notbremse ab einer Inzidenz von 100 verbindlich im Bundesinfektionsschutzgesetz zu verankern.

Die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) bezeichnete die Absage des Gesprächs mit der Kanzlerin als „folgerichtig“. Sie erwarte nun einen konkreten Gesetzesvorschlag des Kanzleramts, sagte Dreyer den Funke-Zeitungen.

Die verbindliche Notbremse könnte sich auch auf Lockerungen im Saarland auswirken – auf das erst in dieser Woche gestartete Saarland-Modell. Am Donnerstagabend lagen vier der sechs Landkreise im Saarland über eine Inzidenz von 100: der Regionalverband Saarbrücken, die Landkreise Neunkirchen, Saarlouis und der Saarpfalz-Kreis. Unterhalb einer Inzidenz von 100 sollten die bestehenden Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz fortgelten und die Länder damit ihre Zuständigkeit behalten.

Das Saarland-Modell stand diese Woche schon in der Kritik. „Wir brauchen den harten bundesweiten Lockdown ab jetzt für mindestens zwei Wochen. Damit muss ein Moratorium für jegliche Öffnungsschritte gelten. Das beinhaltet ausdrücklich auch die Modellprojekte im Saarland“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Skeptisch äußerte sich auch der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr. Als „allgemein besten Wert“ für ein solches Modell nannte Lehr eine Inzidenz „um 50“. Auch die Saarländische Krankenhausgesellschaft blickte „besorgt“ auf das Saarland-Modell und die dritte Welle. „Wir sehen in den Kliniken mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen, wie sich das aktuelle Infektionsgeschehen auswirkt“, sagte Geschäftsführer Thomas Jakobs.

Saar-Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) verteidigte Anfang der Woche das Vorgehen der Landesregierung gegen Widerstände. Die Lockerungen seien konform mit den geltenden Beschlüssen von Bund und Ländern. Auch wenn in diesen eigentlich nur von „ausgewählten Regionen“ die Rede ist und nicht gleich von ganzen Bundesländern.

Laut der Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf einen Bericht der „Welt“ bezieht, sei außerdem vorgesehen, ab einer Inzidenz von 100 innerhalb einer Woche nächtliche Ausgangsbeschränkungen für das jeweilige Bundesland vorzuschreiben. Die Schulen sollen demnach ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 in den Distanzunterricht wechseln. Eine solche Regelung würde sich allerdings auf den Inzidenzwert des Bundeslandes beziehen, nicht die Werte in den jeweiligen Landkreisen. Im Saarland liegt der Wert landesweit aktuell bei 97,4.

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