Kindheitserinnerungen auf der Kirchenbank

St. Ingbert. Gut sechs Jahre ist es jetzt her. Am St. Ingberter Rathaus hatten sich mehrere hundert Bürger versammelt, um "ihrem" Oberbürgermeister Winfried Brandenburg eine würdige Verabschiedung in den Ruhestand zu bereiten - Fackelschein, Feuerwehr in Reih und Glied, die Bergkapelle und der Große Zapfenstreich inklusive. Freibier und fröhliche Begegnungen natürlich auch

 Viel unterwegs: Winfried Brandenburg, hier bei der jüngsten SZ-Leserwanderung im Bliesgau. Foto: SZ

Viel unterwegs: Winfried Brandenburg, hier bei der jüngsten SZ-Leserwanderung im Bliesgau. Foto: SZ

St. Ingbert. Gut sechs Jahre ist es jetzt her. Am St. Ingberter Rathaus hatten sich mehrere hundert Bürger versammelt, um "ihrem" Oberbürgermeister Winfried Brandenburg eine würdige Verabschiedung in den Ruhestand zu bereiten - Fackelschein, Feuerwehr in Reih und Glied, die Bergkapelle und der Große Zapfenstreich inklusive. Freibier und fröhliche Begegnungen natürlich auch.Das war sein letzter offizieller Auftritt. Doch was macht Winfried Brandenburg seither? Zunächst fällt auf, dass er etwas nicht macht: Er erteilt keine ungefragten, besserwisserischen Ratschläge vom Spielfeldrand aus. Vielmehr hält er sich aus der kommunalen Tagespolitik konsequent heraus. Trotzdem ist er nach wie vor sehr präsent. Man trifft ihn in der Fußgängerzone, die einst sein Werk war, er besucht das St. Ingberter Jazz-Festival, ist auf Straßenfesten, verabredet sich häufig mit Freunden, organisiert schon mal ein Klassentreffen, geht mit bei der SZ-Wanderung im schönen Bliesgau. Und er hat als Ruheständler endlich etwas mehr Zeit für Ehefrau Christel, die beiden Kinder und die putzmunteren Enkel.Seine wichtigsten Lebenserinnerungen hat er in einer lesenswerten Broschüre zu Papier gebracht. Er ist auch viel auf Reisen. Immer wieder geht es nach Berlin, wo er einst das Licht der Welt erblickte und wo er am Prenzlauer Berg eine kleine Wohnung sein Eigen nennt. Und er beschäftigt sich, wie so mancher, der den Lebenszenit überschritten hat, wieder mit den Wurzeln - den mit einer Flucht vor Stalins Roter Armee abrupt endenden Kindertagen im pommerschen Neustettin, das seit 1945 polnisch ist und nun Szczecinek heißt.Gerade kürzlich erst, im Juni, war Winfried Brandenburg wieder einmal dort. Szczecinek veranstaltete Festtage aus Anlass der vor 700 Jahren an Neustettin verliehenen Stadtrechte. "Die Feierlichkeiten waren für mich eine willkommene Gelegenheit, die Heimat der frühen Kindheit neu zu entdecken", berichtet Brandenburg. Die Zugfahrt von Berlin aus dauerte fünf Stunden, "die polnische Bahn erwies sich dabei als pünktlich und preiswert".Der ehemalige St. Ingberter OB mit SPD-Parteibuch stammt aus wohlhabenden Verhältnissen. Denn der Vater hatte einst in Neustettin eine Landmaschinenfabrik besessen. Spuren davon fand Brandenburg: "Dort, wo Landmaschinen gefertigt wurden, sind jetzt einige Handelsgeschäfte untergebracht, da habe ich mir Turnschuhe für die anschließend an der Ostsee geplante Kur gekauft." Vom ehemaligen Sägewerk, der Gießerei, der Stellmacherei und den übrigen Fabrikationsstätten gibt es allerdings keine Relikte mehr, dafür befindet sich der eine oder andere Neubau auf dem Gelände. "Von unserem früheren Wohnhaus bis zur Pestalozzischule, wo für mich 1945 die Einschulung geplant war, wäre es ein kurzer Schulweg gewesen; der von Deutschland begonnene Krieg hat mich die Einschulung im Herbst 1945 im Saarland - der Heimat meiner Mutter - erleben lassen." Zum Jubiläum der Stadt waren etliche Deutsche angereist. Der derzeitige Bürgermeister von Szczecinek, Jerzy Hardie-Douglas, nahm sich über eine Stunde Zeit, sie zu begrüßen - eine Geste, die nicht nur der aus Köln gekommene Heimatkreisvorsitzende der ehemaligen Neustettiner als sehr angenehm empfand.Im Sitzungssaal des Rathauses fand der Hauptfestakt statt. Der gesamte Stadtrat von Szczecinek sowie Delegationen der vier Partnerstädte nahmen teil. Anschließend gab es einen Umzug. Schulklassen stellten in historischen Kleidern Szenen aus der deutschen und polnischen Geschichte dar. Der Besuch von Kaiser Wilhelm in Neustettin durfte ebenso wenig fehlen wie die Erinnerung an die jüdischen Mitbewohner und die Ereignisse der kriegerischen Auseinandersetzungen im Laufe der Jahrhunderte. Die Zuschauer am Straßenrand waren zahlreich und feierten die Umzugsteilnehmer."Mein persönlicher Höhepunkt dieser Tage war allerdings der deutsch-polnisch evangelisch-katholische Gottesdienst in der Kirche, wo ich Weihnachten 1944 mit meinen Eltern und meiner Großmutter letztmalig einen evangelischen Gottesdienst in Neustettin miterlebt hatte", berichtet Winfried Brandenburg, der schon vor Jahrzehnten die grenzüberwindende Verständigung als Mitinitiator der Deutsch-Polnischen Gesellschaft im Saarland auf seine Fahnen geschrieben hatte. "Ich hatte mir den Platz in der zweiten Bank rechts herausgesucht, wo ich 1944 saß und woran ich mich noch deutlich erinnern konnte. Jetzt saß ich neben einer älteren Polin. Sie bekannte ihren Glauben mit dem 'Vater unser' auf Polnisch, ich auf Deutsch, und wir sangen gemeinsam drei Kirchenlieder in der jeweiligen Muttersprache. Es war ein Zeichen, das mir ans Herz ging."

Zur PersonWinfried Brandenburg war von 1984 bis 2004 Oberbürgermeister der Stadt St. Ingbert. Seine Amtszeit war damit länger als die jedes anderen hauptamtlichen Bürgermeisters oder Oberbürgermeisters der Stadt. Geboren wurde Winfried Brandenburg am 12. September 1939. Die frühe Kindheit verbrachte er in Pommern, 1945 kam die Familie nach St. Ingbert. Nach dem Abitur studierte Brandenburg Jura und promovierte zum Doktor der Rechtswissenschaft. Danach arbeitete er als Richter an Sozialgerichten.Parallel dazu betätigte er sich innerhalb der sozialdemokratischen Partei und wurde 1968 in den Stadtrat St. Ingbert gewählt. Seine politische Karriere führte über den SPD-Fraktionsvorsitz bis zur Wahl zum Oberbürgermeister im Jahr 1984. Damals wurde der OB vom Rat bestimmt. 1994 begann die zweite, wiederum zehn Jahre dauernde Amtszeit. 2004 wurde Brandenburg mit einem Großen Zapfenstreich in den Ruhestand verabschiedet.

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