Kein Friede auf Erden

Gersheim · Die Zeitzeugen werden weniger und damit auch die Zahl jener, die aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges berichten können. Eine Zeitzeugin erinnert sich an die Umstände ihrer Kriegsweihnacht 1944 im Bliesgau.

 In einem Luftschutzbunker in Neunkirchen gab es zur Kriegsweihnacht 1944 sogar einen geschmückten Baum (links). In den Stollen des Kalkbergwerks Gersheim verlebten viele Menschen aus dem Bliesgau die Weihnachtstage von 1944 (rechts). Foto: O. Sell/Repro: A. Schetting

In einem Luftschutzbunker in Neunkirchen gab es zur Kriegsweihnacht 1944 sogar einen geschmückten Baum (links). In den Stollen des Kalkbergwerks Gersheim verlebten viele Menschen aus dem Bliesgau die Weihnachtstage von 1944 (rechts). Foto: O. Sell/Repro: A. Schetting

Foto: O. Sell/Repro: A. Schetting

Der 23. Dezember 1944 hat sich in Kopf und Herz von Lieselotte Ewert, geborene Vincent, tief eingebrannt. Es ist der Tag, an dem ihre Schwester Hedi starb. Ihr Tod ist auch 70 Jahre später noch besonders anrührend. Denn Hedi, die damals 15-jährige Tochter der Familie Vincent aus Gersheim , wünschte sich in den Kriegstagen nichts sehnlicher als einen Christbaum für ihren kleinen Bruder. Er war damals gerade sechs Monate alt.

Kleine Tannen standen in unmittelbarer Nähe jenes Ortes, an dem Hedi und ihr kleiner Bruder mit den Familienmitgliedern und Nachbarn "lebten", doch es war nicht ungefährlich, sie zu schlagen. Hedi hoffte dennoch, dem kleinen Bruder zu diesem Weihnachtsfest eine Freude zu machen. Ihre Unterkunft lag nur ein paar Hundert Meter vom eigentlichen Wohnhaus entfernt, in einem Stollen im Kalkwerk Gersheim . In jenen Tagen schossen die Amerikaner auf alles, was sich um Gersheim herum bewegte. Deshalb suchten zeitweise bis zu 2000 Menschen Zuflucht in den Stollen des Kalkbergwerks, darunter die Familie Vincent mit ihren fünf Kindern. Die Vincents nahmen sogar Möbel und zwei Kühe mit in die unterirdische Welt. Auch Nahrung war vorhanden. "Früher war es ja Brauch, im Herbst Früchte und Gemüse einzumachen und für den Winter Vorratspolitik zu betreiben. Das war unser Glück in aller Not", erinnert sich Hedis Schwester Lieselotte Ewert, die heute in Neunkirchen lebt.

Anschaulich wie Lieselotte Ewert schildert auch Alban Wack aus Gersheim die Kriegsgeschichte. In seiner Niederschrift "Meine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit in Gersheim " zeigt er die Ereignisse unter anderem in dieser Zufluchtstätte für viele Bewohner aus Gersheim und den umliegenden Gemeinden bis hin nach Herbitzheim und Rubenheim auf. "Dass die Front bedrohlich nahe war, merkten wir am 7. Dezember 1944 abends, als die ersten Granaten in der Dorfmitte einschlugen. Die Lichter gingen aus und blieben neun Monate dunkel. (…) Am nächsten Tag begann der Aufbruch in die Kalkstollen im Steinbruch, in denen schon seit 1905 Kalkstein abgebaut wurde. Die Stollen selbst sind etwa 5,5 Meter hoch, sechs Meter breit und haben eine Gesamtlänge von vielen Kilometern." (Anmerkung der Redaktion: Den Kalk baute das Neunkircher Eisenwerk ab. Er wurde für die Eisengewinnung benötigt.)

Wie Wack weiter schreibt, wurden im Kriegswinter 1944 drei Kilometer des weiten Stollennetzes von Menschen bewohnt. Die Lufttemperatur habe konstant neun Grad Celsius betragen, die Luftfeuchtigkeit 90 Prozent. Die Menschen waren vor Granaten und Bomben sicher, da das Deckgebirge 30 Meter dick war. Hier harrten die Menschen zwischen Möbeln, Tieren und Nahrungsmitteln aus, während Wohngebäude, Stallungen und das nicht mitgenommene Vieh dem Schicksal ausgeliefert waren.

Zwar war der Krieg für die Deutschen verloren, doch im Bliesgau mussten sich Teile der Wehrmacht immer noch den Alliierten stellen. So geriet der Bliesgau unmittelbar vor Kriegsende zu einer Hauptkampflinie.

Im Kapitel "100 Tage im Steinbruch-Stollen" erwähnt Wack auch folgende Begebenheit: "Kurz vor Weihnachten ging ein Mädchen aus dem Stollen mit deutschen Soldaten in den Hardtwald, um einen Christbaum zu holen. Dabei wurde es bei einem Granateinschlag tödlich verletzt." Lieselotte Ewert ergänzt im Gespräch die Zeilen von Alban Wack: Hedi habe immer wieder gebettelt, dass man doch einen Christbaum im Stollen aufstellen solle, damit der kleine Bruder eine Freude habe. Von dem Wunsch hätten auch zwei deutsche Deserteure gehört, die ebenfalls in den Stollen Zuflucht gesucht hatten. Diese Männer seien trotz aller Gefahr mit Hedi hinausgegangen, um einen Baum zu schlagen. Es sei gegen 17 Uhr gewesen. Dann habe plötzlich Artilleriebeschuss eingesetzt, womit in der Dunkelheit nicht zu rechnen gewesen sei. Hedi Vincent und ein Soldat seien getroffen worden.

"Hedi hatte neben anderen Verletzungen auch Splitter in der Schläfe. Sie starb", erzählt Schwester Lieselotte. "Freunde haben einen Sarg gebaut und Hedi hineingelegt. Sie konnte aber wegen des Beschusses nicht außerhalb des Bunkers auf dem Friedhof beerdigt werden. Deshalb haben wir den Sarg in einen Seitenstollen geschoben, bis der Krieg für uns vorüber war. Im Februar 1945 konnten wir Hedi dann offiziell zu Grabe tragen", berichtet sie.

Als Hedi beerdigt wurde, war der Krieg für die Menschen im Bliesgau zu Ende. Alban Wack schreibt dazu: "Bomben , Granaten und Flugzeuge konnte man vergessen. Fast alle waren froh, ohne gesundheitliche Schäden überlebt zu haben, und nach 100 Tagen hatte das Leben im Stollen ein Ende. Bei Tageslicht zu arbeiten und wieder unter normalen Verhältnissen zu schlafen, war für uns das schönste Geschenk."

Zum Thema:

Auf einen BlickUm einen kleinen Eindruck von den Sorgen in und um die Stollen in Gersheim am Ende des Zweiten Weltkriegs zu bekommen, sei noch einmal Alban Wack zitiert: "Alle Stollenbewohner machten mehrere Fahrten, bis sie ihr Hab und Gut untergebracht hatten." In den unterschiedlichen Stollen lebten Bewohner von Reinheim, Walsheim, Niedergailbach und Medelsheim, Rubenheim, Herbitzhein und Bliesdalheim. Es war auch eine Stollenkirche eingerichtet, in der an Nachmittagen und Sonntagen Gottesdienste abgehalten wurden. Eine Christmette wurde ebenfalls gefeiert. Heute sind die Stollen verfüllt, das Kalkwerk ist geschlossen. Der Landkreis betreibt auf dem Gelände eine Photovoltaik-Anlage. Außerdem besteht dort noch die Firma Kalk- und Umweltbetrieb Gersheim . gm

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort