Mordfall Kandel kommt nicht zur Ruhe

Kandel · Die 15-jährige Mia wurde heute vor einem Jahr in Kandel erstochen. Schnell geriet die Tragödie in den Sog des Konflikts über die deutsche Flüchtlingspolitik. Im Ort demonstrieren seit der Tat rechte und linke Gruppen. Es ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit.

 Eine Frau hält bei einer Demonstration im September ein Papp-Herz in die Höhe.

Eine Frau hält bei einer Demonstration im September ein Papp-Herz in die Höhe.

Foto: dpa/Andreas Arnold

Der Tatort im grellbunten Drogeriemarkt von Kandel passt nicht zu dem grausamen Verbrechen. Hier, zwischen Kosmetikwaren und Haushaltsartikeln, tötet der afghanische Flüchtling Abdul D. am 27. Dezember 2017 seine Ex-Freundin Mia mit einem Brotmesser. „Bleib wach!“, rufen Freunde der Schwerverletzten noch zu. Vergeblich: Die 15-Jährige stirbt im Krankenhaus. Für Kandel, eine Gemeinde mit rund 9500 Einwohnern in der Südpfalz zwischen Landau und Karlsruhe, ist die Tragödie bis heute traumatisch. „Nach dieser schrecklichen Gewalttat herrschte große Bestürzung“, sagt Bürgermeister Volker Poß (SPD). „Wie konnte das nur passieren? Man kann es nicht verstehen.“

Ein Jahr später erinnert im Drogeriemarkt nichts an die Tat. Im Ort selbst ist das oft anders. Kein Monat vergeht ohne Aufmarsch rechter und linker Gruppen, getrennt von Hunderten Sicherheitskräften. Seit der Tragödie ist Kandel im Streit um die deutsche Migrationspolitik eine Art „Ground Zero“ geworden, ein Kristallisationspunkt. Auch am Jahrestag der Tat wird mindestens eine größere Kundgebung erwartet. „Die Stimmung ist aufgeheizt“, sagen Bewohner. Dabei bräuchte der Ort dringend Ruhe zur Trauer und zur Aufarbeitung.

Der Fall Kandel hat längst die Bundespolitik erreicht. Demonstrativ empfing Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Mai Bürgermeister Poß in Berlin. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) macht sich Gedanken über die aufgeheizte Stimmung. Mit Blick auf Proteste unter anderem in Köthen in Sachsen-Anhalt sagte er der „Welt am Sonntag“: „Die Einwohner von Kandel erleben in letzter Zeit ständig Demonstrationen von rechtsgerichteten Personen – oft gegen den Willen der Kandeler. Kein Mensch kommt auf die Idee zu fragen: Was hat die Pfalz falsch gemacht, dass es zu derartigen Kundgebungen kommt? Ich sehe keinen Unterschied zwischen Kandel und Köthen.“

Mit „Merkel muss weg“-Rufen ziehen Demonstranten allmonatlich durch die Gemeinde. Sie eine die Trauer um Mia, argumentieren sie – doch die wenigsten dieser „Wutbürger von Kandel“ stammen aus dem Ort. Viele seien zugereiste Anhänger der AfD, der Reichsbürger und der Identitären Bewegung, meinen Bürger der Kommune. Sie sprechen von „importierter Empörung“. Von Aktivisten, die „versuchen, den bürgerlichen Zusammenhalt zu zerstören“, spricht auch Alexander Schweitzer, SPD-Fraktionschef im rheinland-pfälzischen Landtag. Einer der Wortführer der kritisierten Kundgebungen bestreitet das. „Ohne unsere Demonstrationen würde in Kandel niemand mehr über Mia sprechen“, meint Marco Kurz vom „Frauenbündnis Kandel“.

Doch der Widerstand gegen die politische Instrumentalisierung ist im Ort gewachsen. Das Bündnis „Wir sind Kandel“ ist entstanden, gegen die „Flut rechter Netzwerke, die unsere Stadt derzeit überziehen“, wie die Gruppe per Facebook mitteilt. Sie sieht den Streit auch als Kampf um die Deutungshoheit über ihre Gemeinde und die Tat. Dafür ist das Bündnis mit dem „Brückenpreis“ der Landesregierung in Mainz ausgezeichnet worden. Dem Hass rechter Netzwerke setze „Wir sind Kandel“ positive Zeichen des demokratischen Umgangs miteinander entgegen, begründet Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) die Wahl.

Die Hoffnung, dass nach dem Prozess gegen Abdul D. Ruhe in Kandel einkehrt, hat sich aber zerschlagen. Das Landgericht in Landau hat den Beschuldigten im September nach Jugendstrafrecht zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt: wegen Mordes an Mia und wegen Körperverletzung, weil Abdul D. einen Freund Mias geschlagen hatte. Das Urteil ist rechtskräftig.

Abdul D. war im April 2016 als unbegleiteter Flüchtling eingereist. Er nannte als Herkunftsland Afghanistan und gab sein Alter zunächst mit 15 Jahren an. Nach der Tat kamen Zweifel daran auf. Ein Gutachten kam zum Ergebnis, dass er zum Tatzeitpunkt mindestens 17 Jahre und 6 Monate alt, aber wahrscheinlich schon 20 Jahre alt war. Als Mia sich von ihm trennte, soll er sie verfolgt und bedroht haben. Acht Mal, so ermittelte es die Staatsanwaltschaft, soll er auf sie eingestochen haben – aus Eifersucht und Rache, wie die Anklagebehörde vermutet. Prozessbeobachter schildern Abdul D. als leicht reizbar. Während der Verhandlung verletzte er bei einem Handgemenge zwei Beamte.

Bürgermeister Poß erhält seit der Tat massive anonyme Vorwürfe, er habe mit seiner Integrationspolitik die Tat mit ermöglicht. „Schmähungen und Diffamierungen kann ich wegstecken. Aber Drohungen bringen einen zum Nachdenken“, sagt er.

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