Interview mit Sonnenberg-Chefarzt Ulrich Seidl Schizophrenie: Eine Krankheit, die man nicht begreifen kann

Der Chefarzt der Psychiatrie der SHG-Kliniken Sonnenberg, Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Seidl, über Therapie und Krankheitsbild der Schizophrenie.

Der Krankheitsverlauf von Schizophrenie sei meist „sehr ungünstig“, erklärt Chefarzt Seidl.

Der Krankheitsverlauf von Schizophrenie sei meist „sehr ungünstig“, erklärt Chefarzt Seidl.

Foto: Robby Lorenz

Was ist Schizophrenie genau?

Seidl Schizophrenien sind mit die häufigsten Erkrankungen, die zu einer Akutaufnahme in der Psychiatrie führen. Dazu kommt, dass es relativ häufig vorkommende Erkrankungen sind, über die in der Allgemeinbevölkerung gar nicht so viel bekannt ist. Schizophrenie hat nichts mit gespaltener Persönlichkeit zu tun und ist weit entfernt von dem, was man sonst als normalpsychologisch kennt. Es sind Krankheitsbilder, die im Einzelfall sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, gemeinsam ist aber, dass sich bestimmte Qualitäten des Denkens und des Handels ändern. Auch die Wahrnehmung kann sich stark verändern. Am besten erläutert man Schizophrenie an dem klassischen Krankheitsbild dessen, was man paranoid-halluzinatorische Schizophrenie nennt. Das sind Krankheiten, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Betroffenen sich einerseits sehr zurückziehen und quasi in ihrer eigenen Welt leben. Die Gedanken können dabei komplett durcheinandergehen, das geht bis hin zu dem, was wir Zerfahrenheit nennen. Dabei ist das Denken der Betroffenen wirklich nur noch Kraut und Rüben. Es kann aber auch so sein, dass die Gedanken einfach sehr sprunghaft sind. Die Wahrnehmung der Welt ändert sich, es können Dinge gehört und gesehen werden, die nicht real sind. Ganz typisch ist das Hören von Stimmen. Die Patienten haben den Eindruck, dass es Stimmen gibt, die Kommentare abgeben oder die Befehle geben. Manchmal unterhalten sich die Stimmen auch miteinander, meist über die Betroffenen selbst. Dazu können Fehleinschätzungen der Realität kommen, typischerweise mit einem paranoiden Wahn. Die Betroffenen sind zum Beispiel fest davon überzeugt, dass sie verfolgt oder beobachtet werden. Im Rahmen eines Wahnsystems wird dann versucht, die ganzen Ideen und Wahrnehmungen miteinander zu verknüpfen. Betroffene glauben zum Beispiel, dass sie Ziel eines internationalen Geheimdienstes sind. Eine ganz typische Symptomatik ist auch, dass die Patienten zu spüren meinen, wie ihnen ihre eigenen Gedanken von einer fremden Macht entzogen oder eingegeben werden. Oder wie sich ihre Gedanken vermeintlich ausbreiten und von allen Umstehenden gelesen werden können. Diese Gedanken sind für den Außenstehenden nicht mehr nachvollziehbar - als psychisch gesunder Mensch sind uns solche Erlebnisweisen völlig fremd.

Oft glauben Leute, dass schizophrene Menschen verschiedene Persönlichkeiten haben. Gibt es das auch?

Seidl Nein, das gibt es nicht. Das ist so ein Klischee, dass Schizophrenie mit multipler Persönlichkeit gleichgesetzt wird. In dem Wort schizophren steckt vom Wortursprung etwas Gespaltenes drin, das bezieht sich aber darauf, dass verschiedene Teile der Persönlichkeit abgespalten sind. Jemand hört Stimmen, die aus ihm selber herauskommen, aber er kann es nicht mehr als Teil der eigenen Persönlichkeit wahrnehmen. Er denkt, dass es fremde Stimmen sind und realisiert nicht mehr, dass die Stimmen in ihm entstehen.

Wie entsteht Schizophrenie?

Seidl Für die Beantwortung dieser Frage würde ich einen Nobelpreis bekommen. Man weiß es noch nicht. Es ist eine Veranlagung, kann also auch vererbt sein. Wenn man zwei Elternteile hat, die schizophren sind, hat man statistisch gesehen ein höheres Risiko, es auch zu bekommen. Aber es wird nicht streng vererbt, das heißt, wenn der Vater schizophren ist, heißt das nicht, dass das Kind es sicher bekommen wird. Es gibt weiterhin unterschiedlichste Theorien, zum Beispiel ob die Krankheit etwas mit Faktoren in der Schwangerschaft zu tun hat. Eine Zeit lang hat man eine Toxoplasmose-Infektion damit in Verbindung gebracht. Es könnten auch Entzündungsprozesse sein, die eine Rolle spielen. Man weiß, dass es im Gehirn der Betroffenen sowohl in der Struktur als auch in der Verknüpfung und der Funktionalität der Nervenzellen Veränderungen gibt. Es gibt ganz viele Befunde, die darauf hindeuten, dass im Gehirn etwas passiert, aber es gibt keine einheitliche Theorie. Man weiß nicht genau, warum es die einen kriegen und die anderen nicht. Das Gehirn ist dafür schlicht zu komplex. Es ist nicht so, wie man früher gedacht hat, dass es verschiedene Inseln im Gehirn gibt, die für verschiedene Aspekte zuständig sind, sondern es ist ein hochkomplexes Netzwerk. Und wenn dieses Netzwerk irgendwo Störungen oder Erkrankungen hat, ist man schnell damit überfordert, das zu verstehen. Dann kommt noch hinzu, dass es ganz viele Befunde bei der Schizophrenie gibt, die nicht einheitlich sind. Bei manchen Patienten finden sie Entzündungsreaktionen, bei anderen finden sie die nicht. Auffälligkeiten, die es bei manchen Patienten gibt, gibt es bei anderen nicht. Es existiert schlicht keine einheitliche Befundlage.

Macht das die Diagnose schwieriger?

Seidl Nein, weil die Diagnose nicht auf körperlichen Untersuchungen basiert, sondern klinisch gestellt wird. Wir machen höchstens eine körperliche Ausschlussdiagnostik, um sicherzustellen, dass es keine körperliche Ursache gibt. Zum Beispiel kann ein Gehirntumor, der wächst, so ähnliche Symptome auslösen wie eine Schizophrenie. Wenn jemand zum ersten Mal erkrankt ist, dann müssen wir diese Ursachen ausschließen. Wenn wir nichts finden und eine bestimmte Symptomatik da ist, dann kann man Schizophrenie diagnostizieren.

Welche Symptome finden sich bei den meisten Patienten?

Seidl Eugen Bleuer, der den Begriff Schizophrenie vor ungefähr 100 Jahren geprägt hat, hat etwas definiert, was er Basisstörung genannt hat. Damit meinte er eine Art Rückzug und Eigenweltlichkeit, die Betroffene entwickeln. Ihr Antrieb wird vermindert, Gefühle sind nicht mehr so intensiv. Dazu kommt ein Gefühl des Hin- und Hergerissen-Seins, was Entscheidungen angeht. Typische Symptome sind dann eben auch das erwähnte Hören von Stimmen sowie ein entstehender Wahn. Der Eindruck, dass die eigenen Gedanken gehört oder einem selbst entzogen werden könnten, ist ebenfalls typisch. Die Grenze zwischen dem, was mir ganz persönlich gehört und der Außenwelt ist plötzlich nicht mehr da. Dazu kommen noch andere Störungen, die man kognitiv-mnestische Störungen nennt, sprich, Konzentration und Gedächtnis verschlechtern sich. Die Patienten sind insgesamt sehr stark gehandicapt.

Sie haben erwähnt, dass die meisten ihrer Akutpatienten schizophren sind. Heißt das, dass Schizophrenie sehr oft schwer verläuft?

Seidl Es sind Krankheiten, die tendenzielle eher schlechte Prognosen haben, trotz Fortschritten in der Therapie. Man kann eine Schizophrenie medikamentös behandeln, man kann sie auch unterstützend behandeln und versuchen, die Symptome in den Griff zu kriegen. Man muss aber sagen, dass in einer großen Zahl der Fälle der Verlauf eher ein ungünstiger ist. Es werden meist auf Dauer Einschränkungen bleiben, die Betroffenen Schwierigkeiten haben und noch Symptome übrig bleiben. Wir können die Akutsymptomatik recht gut behandeln, gerade auch mit Medikamenten. Was schon schwieriger ist, sind die sogenannten Negativsymptome, sprich die Schwunglosigkeit und die fehlende Motivation der Personen. Das kriegt man ganz schwer behandelt, auch mit Medikamenten nicht. Das Gleiche gilt auch für die kognitiven Störungen.

Die Negativsymptome klingen beinahe ein wenig nach Depression. Gibt es da Parallelen?

Seidl Es kann von außen gesehen wie eine Depression wirken. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie bei einer Depression auch noch andere Symptome haben. Beispielsweise auch Appetitlosigkeit und insgesamt das ganze Wahrnehmen sehr negativ ist. Bei der Apathie, die Schizophrene haben, ist es eher eine Teilnahmslosigkeit. Der Leidensdruck ist zum Teil gar nicht so groß. Die Betroffenen sehen sich selbst nicht so stark eingeschränkt, wie das Umfeld es wahrnimmt. Wir haben zum Teil Patienten, die stark gehandicapt sind und gar kein normales Leben mehr führen können. Aber der Leidensdruck ist nicht so hoch, das heißt, die fühlen sich gar nicht so krank, wie sie eigentlich sind. Bei der Depression ist das anders – da leiden die Betroffenen Qualen und erleben sich meist als insuffizient.

Wie beginnt einer Schizophrenie-Erkrankung meistens?

Seidl Es gibt bestimmte Symptome, die der Erkrankung vorauslaufen können, wie eine Art langsamer Aufbau. Typischerweise läuft diese sogenannte Negativ-Symptomatik voraus, man nennt das ein „Prodrom“. Das bedeutet, dass Dinge schwerer fallen als zu gesunden Zeiten. Insbesondere, dass die Energie und der Schwung nicht mehr da sind. Dass man weniger Leistung bringt. Die Betroffenen fallen aus ihren gewohnten Tätigkeiten heraus.

Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem die Erkrankung beginnt?

Seidl Es geht meistens in der Adoleszenz los. Die meisten erkranken spätestens bis zu ihrem 30. Lebensjahr. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist es ein sehr seltenes Krankheitsbild. Bei Kindern würde man es noch nicht diagnostizieren. Es geht erst ab ungefähr 15 Jahren los. Die meisten erkranken dann um das 20. Lebensjahr herum.

Wie schwierig gestaltet sich die Diagnose am Anfang?

Seidl Gerade am Anfang, wenn die Krankheit losgeht, kann es sein, dass man es schwer erkennt. Vor allem wenn die Betroffenen vielleicht nicht berichten, was wirklich passiert. Wenn jetzt jemand zum Beispiel sich nur zurückzieht und teilnahmslos wirkt, dann wird es oft als Depression verkannt. Oder wenn jemand nicht offen über seine Wahrnehmung berichtet, über Stimmen, die er hört oder seinen Wahn. Dann kann es leicht fehldiagnostiziert werden. Wenn die Erkrankung jetzt aber akut ist und jemand nach außen hin auffällig wird, dann fällt die Diagnose leichter. Bei akuter Erkrankung wirken die Betroffenen sehr bizarr in ihrem Verhalten, sodass sogar schon der Laie erkennt, dass da was nicht stimmt. Es wird zum Beispiel ganz unmotiviert gehandelt oder es werden Dinge getan, die von außen gar keinen Sinn ergeben. Betroffene können auch mit fiktiven Personen reden oder sie machen deutlich, dass sie sich versuchen vor fiktiven Bedrohungen zu schützen - sie bewaffnen sich vielleicht und treffen Vorkehrungen. So wird die Erkrankung dann doch augenscheinlich.

Woher kommen diese Wahnvorstellungen gerade auch der extreme Verfolgungswahn?

Seidl Das ist schwer zu sagen. Man kann es sich am ehesten so vorstellen, dass sich in dem Moment, in dem sich die Wahrnehmung ändert und die Betroffenen Stimmen hören, sie sich selbst versuchen, die Situation zu erklären. Zunächst einmal ist der unmittelbare Eindruck da, dass man beobachtet wird. Und je nachdem in welcher Zeit man lebt, findet man dann unterschiedliche Erklärungen. Früher wurde das vielleicht eher religiös gedeutet oder mit Geistern oder Dämonen erklärt. Heute sind es jetzt vermeintliche Geheimdienste und fiktive Kameras, die auf die Betroffenen gerichtet sind. Wodurch genau die Wahnvorstellungen entstehen, ist aber schwer zu erklären.

Wie viele Menschen sind von Schizophrenie betroffen?

Seidl Die Zahl der Menschen, die wir behandeln, geht in die Hunderte. Von der gesamten Bevölkerung haben wohl ungefähr ein bis zwei Prozent eine entsprechende Veranlagung.

Gibt es einen milden Verlauf oder müssen sich alle Erkrankten in Behandlung begeben?

Seidl Wenn jemand so eine Erkrankung hat, dann ist eine Behandlung dringend notwendig. Es gibt symptomärmere Verläufe, vielleicht schafft es jemand auch ohne Behandlung weiterzuleben, aber es ist in jedem Fall ein großes Handicap. Das sind keine Krankheiten, die spurlos vorbeigehen.

Wird der Krankheitsverlauf häufig suizidal?

Seidl Ja und nein. Was häufig passiert ist, dass sich die Betroffenen selbst in Gefahr bringen. Aber mit dem Begriff des Suizids, also dem beabsichtigten eigenen Tod, muss man vorsichtig sein. Es gibt Patienten, die suizidales Verhalten zeigen, aber gar nicht aus einer eigenen Entscheidung heraus, sondern weil ihnen zum Beispiel irgendeine Stimme sagt, dass sie sich umbringen soll. Da wird kein Entschluss gefasst, der Schizophrene hört eben in diesen Fällen manchmal einfach auf seine Stimmen. Oder er macht sonstige Dinge, die gefährlich sind. Die Stimme sagt: „Du kannst fliegen, spring von dem Haus!“ Und dann macht der Erkrankte das. Es gibt aber natürlich auch Schizophrene, die außerhalb von der Akutphase so sehr verzweifeln, weil sie ihre Krankheit realisieren und merken, wie beeinträchtigt sie sind, dass sie suizidal werden. Es gibt auf jeden Fall ein hohes Risiko, dass sich Betroffenen ihr Leben nehmen.

Können die Betroffenen auch gefährlich für ihre Mitmenschen werden?

Seidl Das ist weniger häufig, aber das sind natürlich die spektakulären Fälle, die dann häufig auch in der Presse zu finden sind. Es wird zum Glück oftmals allgemein von psychisch verwirrten Menschen gesprochen, wenn etwas passiert ist. Man muss aufpassen, dass man da nicht das Klischee bedient, dass der Schizophrene eine Gefahr für die Allgemeinheit ist. In seltenen Fällen kann das passieren, weitaus häufiger gehen die Erkrankten aber gegen sich selber vor.

Wird Schizophrenie in der Öffentlichkeit oft falsch dargestellt?

Seidl Es wird nicht zwangsläufig falsch dargestellt, aber die Wenigsten haben eine Vorstellung davon, was Schizophrenie ist. Über andere Krankheiten wird sehr viel berichtet, über Schizophrenie vergleichsweise wenig. Ich glaube, es gibt eine gewisse Scheu, sich damit auseinanderzusetzen, weil es einfach so weit von dem entfernt ist, was wir normalerweise kennen und was verstehbar ist. Die meisten denken, dass alles im Psychischen nachvollziehbar ist, aber es gibt eine Welt jenseits von dem, etwas das wir nicht verstehen und nachvollziehen können und damit setzen sich die Menschen nicht gerne auseinander.

 Sind die Stimmen immer negativ oder können sie auch positiv sein?

Seidl Sie können tatsächlich auch positiv sein. Das können fremde Stimmen sein, das können auch vertraute Stimmen sein. Manchmal haben Betroffene den Eindruck, die eigenen Gedanken würden von einer Stimme gesprochen. Die Stimmen können außerdem auch im Kopf lokalisiert sein oder irgendwo aus dem Raum kommen – das ist komplett unterschiedlich. Die Stimmen können negativ sein, die Erkrankten beschimpfen oder unangenehme Befehle geben. Es können aber auch angenehme Stimmen sein. Ich hatte einmal einen Patienten, der permanent die Stimme einer jungen Frau gehört hat, die ihm geschmeichelt hat. Es gibt nichts, was es nicht gibt bei diesem Symptom. Es können auch vermeintlich Stimmen von Verwandten oder Freunden sein.

Wie läuft die Behandlung von den Erkrankten ab?

Seidl Zunächst einmal hängt das davon ab, in welcher Phase der Erkrankung die Person ist. Schwierig wird es dann, wenn jemand in der akuten Phase ist und selber überhaupt nicht begreift, dass er krank ist. Man hat es dann mit jemand Schwerkranken zu tun, der seinen Zustand als normal empfindet und dann eher noch zur Polizei gehen will, um seine vermeintlichen Verfolger anzuzeigen. So jemanden zu behandeln ist sehr schwer. Wann jemand gegen seinen Willen behandelt werden muss, ist sehr streng geregelt. Für eine Behandlung entscheiden kann sich nur eine Person, die weiß, dass sie krank ist. Durch die Behandlung sollen die Personen wieder in einen Zustand versetzt werden, indem sie das erkennen. Abseits der Akutphase läuft es dann ganz unterschiedlich, wenn die Patienten hier sind. Das Erkennen und Akzeptieren der Krankheit ist wichtiger Bestandteil der Behandlung. Die Basis sind dann Medikamente. Es gibt Medikamente, die die Symptome deutlich verbessern können. Dazu kommt dann, dass jemand aufgeklärt wird über die Erkrankung. Es wird versucht, die Defizite anzugehen, die entstanden sind, sprich, dass jemand zum Beispiel übt, sich wieder zu konzentrieren oder generell wieder in Schwung kommt. Die Personen müssen wieder eine grundlegende Struktur aufbauen können, mit der sie leben können. Vernünftige Ernährung, ein klarer Tagesablauf und das Bewältigen von Aufgaben zählen dazu. All das geht nach der Erkrankung nur mit externer Hilfe.

Jemand in einer akuten Phase wird Sie eventuell auch für einen Teil seiner imaginären Verschwörung halten. Wie geht man mit so etwas um?

Seidl Manchmal ist das ganz schwer. Manche entwickeln das, was man doppelte Buchführung nennt. Das heißt, sie können noch mit einem gesunden Teil ihrer Person reflektieren, dass sie gerade krank sind und wissen, dass es richtig ist, in Behandlung zu sein. Schwierig wird es natürlich dann, wenn mich jemand in sein Wahnsystem mit einbaut. Dann kann man selbst auch nur betonen, dass man der Person Gutes tun will, auch wenn sie es vielleicht nicht glaubt. Wenn man da nicht rauskommt, ist das sehr schwer, meistens ist das aber nicht der Fall. Die Patienten schaffen es meist, Vertrauen zu gewinnen, hören einem zu und lassen sich dann letztlich auch auf eine Therapie ein.

Wie lange dauert die Therapie ungefähr und ab wann können Patienten wieder entlassen werden?

Seidl Die gesamte Therapie dauert Monate. Die Entlassung hängt auch davon ab, ob sich jemand überhaupt freiwillig auf eine Behandlung einlässt. Wir können nur gegen den Willen behandeln, solange eine akute Gefahr droht. Nicht länger. Alles danach ist dann freiwillig. Es gibt Patienten, die, sobald es besser geht, gehen und sich gegen den ärztlichen Rat entlassen lassen. Andere bleiben dabei. Bis man jemanden aus der Akutphase heraus wieder so weit gebracht hat, dass er wieder eingegliedert werden kann, vergehen aber in der Regel wirklich mehrere Monate.

Geht auch die Eingliederung nur unter stetiger Einnahme von Medikamenten?

Seidl Das ist auf jeden Fall die Empfehlung. Die Medikamente stellen die Basis dar, bei einer Absetzung besteht immer ein ganz großes Risiko dafür, dass die Krankheit wieder akut wird.

Wie hoch ist die Rückfallquote bei den Patienten?

Seidl Das kann man pauschal nicht sagen, weil es von zu vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es hängt von der Medikamenten-Einnahme ab, davon, ob jemand Drogen nimmt, von seinem sozialen Umfeld und wie viele stabilisierende Faktoren er allgemein in seinem Leben hat. Insgesamt bleibt es in den meisten Fällen leider nicht bei einer Episode. Es gibt durchaus Betroffene, die sich wieder sehr gut integrieren. Aber dass jemand wieder ein vollkommen normales Leben führt und zum Beispiel in einem Beruf arbeitet, bei dem Höchstleistungen erbracht werden müssen, ist natürlich sehr unwahrscheinlich.

Sie haben das Festhalten gegen den eigenen Willen erwähnt. Ist das in der Behandlung oft ein großes Dilemma?

Seidl Auf jeden Fall. Wir in der Psychiatrie haben ja leider oft den Ruf, dass wir Leute einsperren gegen ihren Willen, die eigentlich ganz normal und nur ein bisschen originell sind. So ist es natürlich nicht, wir haben hier nur mit Schwerkranken zu tun. Und auf der anderen Seite gibt es dieses Klischee, dass wir viel härter durchgreifen müssten, um die Bevölkerung zu schützen. Gerade bei der Behandlung von Schizophrenie gibt es immer dieses Spannungsverhältnis: Wie weit gebe ich jemandem die Freiheit, die ihm zusteht; auch die Freiheit, krank zu sein? Und wie weit muss ich eingreifen? Was ist mit jemandem, der wirklich vor die Hunde geht? Wie weit ich diese Person gegen ihren Willen behandeln darf, ist Teil vieler ethischer Herausforderungen, vor denen wir in der Psychiatrie stehen und auf die es auch keine einfache Antwort gibt. Einen an Schizophrenie Erkrankten darf ich gegen seinen Willen nur einweisen lassen, wenn ganz konkret eine Gefährdung besteht - für die Person selbst oder für andere.

Das heißt, selbst wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, sein Leben normal zu leben, müssen Sie ihn unter Umständen gehen lassen?

Seidl Ja zunächst mal schon. Es gibt dann die Möglichkeit, eine gesetzliche Betreuung einzurichten. Wenn jemand langfristig Gefahr läuft, sich zu schädigen, dann hat man die Möglichkeit, jemanden per Gerichtsbeschluss einer Behandlung zuzuführen. Das ist dann aber ein längerer Prozess, in dem man darlegen muss, dass jemand langfristig droht, erheblichen Schaden zu erleiden.

An welchem Punkt der Erkrankung kommen die Betroffenen zu Ihnen?

Seidl Man geht davon aus, dass es immer einen Vorlauf von Monaten bis sogar zu zwei Jahren gibt, bis die Symptome die Symptome so klar sind, dass es richtig ausbricht. Die Behandlung erfolgt dann noch verzögerter. Bis jemand wirklich in Behandlung kommt, kann es also Jahre dauern.

Wie geht man in der Behandlung mit den Wahnvorstellungen um?

Seidl Therapie in dem Sinne, dass man ganz lange Psychotherapie-Sitzungen macht, kann man gar nicht machen, weil die Leute sich nicht so lange darauf einlassen können. Das Herangehen ist auch nicht primär psychotherapeutisch, sondern ich muss immer wieder versuchen, den Betroffenen in die Normalität zurückzuholen. Die Kunst besteht einerseits darin, dass ich verständnisvoll bin und gleichzeitig aber auch korrigiere. Ich kann jemanden, der diese Wahnvorstellungen hat, nicht davon überzeugen, dass sie falsch sind. Da wird der Ansatz eher ein medikamentöser sein. Man setzt eher auf die Zeit. Und wenn es gut läuft, dann kann jemand irgendwann von sich aus sagen, dass er an seinen Vorstellungen zweifelt. Darin bestätigt man den Patienten dann.

Was macht die Schizophrenie im Vergleich zu den anderen Krankheiten, über die wir in dieser Reihe reden, besonders?

Seidl Schizophrenie ist eine Krankheit, die man nicht begreifen kann. Und die auch in dem Sinne nicht der Psychotherapie zugänglich ist. Man kann mit den Betroffenen nicht einfach darüber reden oder die Krankheit aus der Kindheit herleiten. Schizophrenie hat eine ganz eigene, nicht begreifbare, nicht nachvollziehbare Qualität. Von den Krankheiten, über die wir reden, hat Schizophrenie außerdem die schlechteste Prognose. Der Verlauf ist in den meisten Fällen sehr ungünstig und man bekommt es leider ganz schwer behandelt. 

Mit weiteren Fragen können sich Interessierte per Mail an die Adresse sekr.psychiatrie@sb.shg-kliniken.de wenden. Alle Texte der Serie sowie eine ausführlichere Version des Interviews finden Sie unter www.saarbruecker-zeitung.de/psychiatrie.

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