Unsere Woche Unter ständiger Beobachtung

Seit Wochen nun fühle ich mich beobachtet. Kaum trete ich aus der Haustür, ruhen von allen Seiten Blicke auf mir, denen man sich nur schwer entziehen kann. Auf der Weg zur Arbeit, beim Einkaufen, beim Spazieren. Immerhin, die Farbtupfer der vielen Wahlplakate inmitten des grauen Herbstalltages lenken von den langsam sich ins Braun verfärbenden Blättern der Bäume ab. Viel wurde geklebt, gebohrt und geschraubt. Kleinere, an Laternen aufgehängte Varianten oder zuweilen überdimensionierte Aufsteller am Rande der Straßen, die einen förmlich dazu einladen, den Blick kurz von der Straße freundlich lächelnden Personen zuzuwenden. Neben all den Konterfeis der sich seit Wochen miteinander messenden Kandidaten stehen Sätze, die mich etwas stutzig machen. Von Zukunft, Gerechtigkeit, Innovation, Sicherheit und Respekt ist die Rede. Doch was bedeuten diese Schlagwörter? „Wer die Wahl hat, hat die Qual“: Keiner anderen Floskel wird momentan so viel Bedeutung zugemessen. Da steh‘ ich nun, ich armer Tor und fühle mich in meine Schulzeit zurückversetzt. Anhand eines einzigen Wortes oder Satzes versuche ich in alter Gedichtanalyse-Manier zu interpretieren, was man mir alle fünf Meter eigentlich sagen möchte, während ich mit schmunzelnden oder mahnenden Blicken bedacht werde, um auch ja die richtige Entscheidung für mich zu treffen. Als Hilfe eignet sich der sogenannete Wahl-O-Mat oder ein Blick in die jeweiligen Parteiprogramme.

Unsere Woche: Unter ständiger Beobachtung
Foto: SZ/Robby Lorenz

Zugegeben, dieses Jahr hielt sich die Flut an Plakaten noch in Grenzen. Die St. Ingbeter Stadtverwaltung zeigte sich diese Woche übrigens ebenfalls erfreut von so viel Hingabe zu öffentlicher Ordnung. Und doch ist es jeden Abend schön, die Haustür hinter sich zumachen zu können und der ständigen Beobachtung zu entkommen. In einigen Wochen werden die Plakate wieder abgehängt sein. Aber nach der Wahl ist immer vor der Wahl. Schon bald wird es wieder schwer, unbeobachtet mal eben schnell Brötchen kaufen zu gehen.

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