„Wer erst einmal in die Praxis abgewandert ist, lässt sich nicht so leicht zurückgewinnen“ Wie man auf Professorensuche fündig wird

Saarbrücken · Nach dem Modell der Juniorprofessuren an Universitäten führen Hochschulen nun sogenannte Nachwuchsprofessuren ein. Die Saarbrücker HTW hat mit dem Sozialwissenschaftler Sebastian Rahn kürzlich den ersten berufen. Wieso sie bei Neuberufungen erst mal ausgiebig trommeln muss.

Sebastian Rahn (34), promovierter Sozialwissenschaftler, hat die erste, neu eingerichtete Nachwuchsprofessur an der Saarbrücker HTW inne.

Sebastian Rahn (34), promovierter Sozialwissenschaftler, hat die erste, neu eingerichtete Nachwuchsprofessur an der Saarbrücker HTW inne.

Foto: Iris Maria Maurer

Dass er in Stuttgart und Tübingen, wo Sebastian Rahn zuvor als Nachwuchswissenschaftler tätig war, häufiger gefragt wurde, ob er wirklich nach Saarbrücken wolle, konnte ihn von seiner Entscheidung nicht abbringen. Bereut hat er sie nicht. Nicht nur, weil ihm hier eine für ihn fraglos attraktive Nachwuchsprofessur geboten wurde, sondern auch, weil „das Lebensgefühl hier in der Stadt angenehm ist“, wie Rahn nach knapp vier Monaten hier versichert. Unterm Strich steht für ihn ein dickes Plus.

Mehrere Gründe für schwierige Professorensuche an Fachhochschulen

Zumal Saarbrücken dann doch nicht das chronische Schlechtwettergebiet ist, als dass er es zunächst wahrnahm, wie er als Scherz anmerkt, „weil es immer geregnet oder geschneit hat“, als er zum „Vorsingen“ an die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) kam. Dennoch bleibt da eine Frage: Wieso rieten offenbar nicht alle Rahn zu einem Wechsel? Ist eine in Aussicht gestellte Nachwuchsprofessur kein hinreichender Grund für einen Umzug? Und sei es in eine vielleicht nicht als superattraktiv geltende Stadt wie Saarbrücken.

Die Frage beantwortet sich, wenn man nachliest, mit wie viel Süßholzgeraspel ein vor zwei Jahren aufgelegtes Bund-Länderprogramm für sogenannte „HAW-Professuren“ (HAW steht für Hochschulen für Angewandte Wissenschaften) beworben werden muss. In etwa so, als ginge es etwa darum, Leistungssportlern – sagen wir – das Bestattungsgewerbe schmackhaft zu machen. Während niemandem einfiele, für den Karriereweg einer Universitätsprofessur je eigens Werbung zu machen, sieht dies an den einstigen Fachhochschulen anders aus. Fürwahr eine kuriose Situation. Aber weshalb ist das so? Mehrere Gründe kommen zusammen: Zum einen sind Stellen in der freien Wirtschaft im Regelfall finanziell deutlich lukrativer als eine HAW-Professur. Gleichzeitig ist die Zielgruppe jedoch ganz überwiegend genau dort beruflich unterwegs und häufig selbst ohne jeden (oder im Falle von Promovierten bleibenden) Kontakt in die Hochschulwelt. Weshalb die Vorzüge einer solchen Hochschulprofessur vielen, vielleicht potenziell Interessierten unbekannt sind und die Bewerberzahl bei Neuberufungen von Professoren daher nicht selten äußerst überschaubar ist. Salopp gesagt: Was für einen Wechsel aus Unternehmen in die Lehre und Forschung einer HAW spricht, haben viele überhaupt nicht „auf dem Schirm“.

Mächtiges Professuren-Gewinnungsprogramm von Bund und Ländern

Genau deshalb muss auch die Werbetrommel gerührt werden, um ein mit einem satten Gesamtvolumen von 431 Millionen Euro (!) 2021 aufgelegtes Professuren-Gewinnungsprogramm von Bund und Ländern bekannter zu machen. 71 Prozent trägt Berlin, 29 Prozent die jeweiligen Bundesländer. Dass es ausgerechnet „FH-Personal“ heißt („FH“ steht für Fachhochschulen), obwohl Selbige sich heute berechtigtermaßen als praxisorientierte Forschungsinstitutionen verstehen und daher auch als einigermaßen selbstbewusst „universities of applied sciences“ firmieren, ist da nur eine weitere Kuriosität am Rande. Denn das Programm selbst verdient ohne Frage denn doch mehr Aufmerksamkeit.

Von der Praxis zurück in die Lehre

Anders als bei einer Universitätsprofessur wird an HAWs keine Habilitation vorausgesetzt. Eine Promotion hingegen schon sowie ferner eine mindestens fünfjährige Berufspraxis, davon mindestens drei Jahre außerhalb einer Hochschule. Letzteres erklärt, weshalb praxisnahe Hochschulen wie etwa die Saarbrücker HTW ein Rekrutierungsproblem haben: „Wer erst einmal in die Praxis abgewandert ist, lässt sich nicht so leicht zurückgewinnen“, weiß Markus Ehses, HTW-Projektkoordinator für Studium & Lehre, aus leidiger Erfahrung.

Fehlende Praxisjahre gerade bei NAchwuchswissenschaftlern

Womit wir wieder bei Sebastian Rahn sind. Und damit nun besser verstehen, was der Mehrwert der neuen, der ersten Nachwuchsprofessur ist, die der 34-jährige Sozialwissenschaftler an der Saarbrücker HTW im April übernommen hat: Weil es offenkundig schwierig ist, Personal aus Industrie und Wirtschaft für eine HAW-Professur zu gewinnen, geht das Bund-Länderprogramm einen anderen Weg: Nachwuchswissenschaftler wie Rahn, die im universitären Kontext unterwegs sind, werden gewissermaßen dort abgeholt. Da ihnen normalerweise die drei fehlenden Praxisjahre außerhalb des Hochschulbetriebs fehlen, baut das „FH-Personal“-Rekrutierungsprogramm ihnen eine goldene Brücke: Die Praxisjahre können nicht nur neben Lehre und Forschung absolviert, sondern die sogenannte Nachwuchsprofessur kann unter Umständen in eine reguläre HAW-Professur überführt werden. Dazu muss sie allerdings, wie im Fall von Rahn, eine nach dem „tenure track“-Modell von Universitäten sein. Dort heißen diese vom Bund ko-finanzierten Berufungsstellen „Juniorprofessuren“ und werden im Regelfall nach sechs Jahren entfristet – an Hochschulen der angewandten Wissenschaften geschieht dies bereits nach Ablauf von drei Jahren.

Praxis und Hochschule kombinieren

Um die fehlenden „Praxisjahre“ zu gewinnen, braucht es einen Kooperationspartner aus der Nicht-Hochschulwelt – im Fall von Rahn ist dies die Diakonie, bei der er gewissermaßen hälftig beschäftigt ist und dabei sein wissenschaftliches Knowhow einbringt. Klingt nach einer Win-Win-Situation und ist es auch. Jedenfalls wenn man hört, was der promovierte Sozialwissenschaftler bei der Diakonie alles an Stationen durchläuft und dabei in den Gemeinwesenprojekten und weiteren, von der Diakonie verfolgten Sozialprojekten an eigener Expertise einbringen kann. Stefanie Stein von der Diakonie sagt denn auch ganz offen, dass „wir uns davon eine Verbesserung unserer Angebote versprechen“. Ein Beispiel: Für den Jugendclub Saarbrücken-Brebach der Diakonie soll Rahn neue Jugendliche gewinnen. Er erzählt, dass er dazu gerade „einen Fragebogen mit wissenschaftlicher Expertise“ entwickelt, um abzuklopfen, was sie sich heute von einem Jugendclub überhaupt erwarten würden. Rahn, der in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen ist, hat seine Promotion, einen dicken Wälzer unter dem Titel „Biografie – Bilder – Adressierungen“ über Stärken und Schwächen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit geschrieben. Wenn das nicht passt. Fragt man ihn, ob und wie Jugendzentren auf die veränderten Lebenswirklichkeiten heute reagieren, meint er, dass „sie auf dem Land heute zwar noch weitgehend als klassisches JUZ funktionieren, ihre Zielgruppen in den Städten aber immer jünger werden“.

Wie aber bringt er selbst Hochschule und Diakonie praktisch unter einen Hut? Im Schnitt durchläuft Rahn drei Jahre lang zweieinhalb Tage die diversen Diakonie-Abteilungen und lehrt und forscht in der übrigen Zeit an der HTW. Sind das binnen drei Jahren nicht bloß 1,5 Praxisjahre? Nun, das scheint der legitime Kniff der Bund-Länder-Initiative zu sein: Die zweieinhalb Tage können im Prinzip ja auch als fünf Halbtagspraxiseinsätze durchgehen – was tut man nicht alles für den guten Zweck? Zumal „PH-Personal“ für die Saarbrücker Hochschule für Technik und Wirtschaft auch noch aus einem anderen Grund attraktiv ist: Da Rahns Stelle in der Fakultät Sozialwissenschaften sowieso als Planstelle im HTW-Haushalt verankert war, spart man erst einmal Geld, solange der Bund programmgemäß den Löwenanteil daran trägt. Insgesamt sechs „Nachwuchsprofessuren“ in allen vier Fakultäten (plus drei Post-Doc-Stellen) hat die HTW inzwischen im Rahmen von „FH-Personal“ ausgeschrieben, vier davon sind „tenure track“-Professuren. Die übrigen werden sich über Drittmittelakquise weiterfinanzieren müssen – abzuwarten bleibt, ob dies ungeachtet der ausgeprägten HTW-Drittmittelstärke funktionieren wird. Die Resonanz bei den Berufungsverfahren ist laut Markus Ehses jedenfalls offenbar ziemlich gut – das noch bis 2027 laufende Bund-Länderprogramm scheint also zu zünden.

Nicht nur die Freiheit von Forschung und Lehre, sondern auch die fachliche Interaktion mit jungen Menschen ködert dann doch zumindest den ein oder anderen Nachwuchswissenschaftler oder auch in die Wirtschaft abgewanderte Promovierte inzwischen. Im Fall der HTW sind es außerdem auch gute Forschungsbedingungen vor Ort, eine hauseigene Kita und in Saarbrücken vergleichsweise günstige Lebenshaltungskosten. Beim „FH-Personal“-Programm kooperiert die HTW laut Ehses mit den Hochschulen Trier und Kaiserslautern. Die Gefahr, sich gegenseitig Bewerber abzujagen, ist geringer als der gegenseitige Profit mittels wechselseitiger Befruchtung. Mehr als 100 Professuren seien in den kommenden fünf Jahren an den drei Hochschulen neu zu besetzen – alleine rund 30 der knapp 130 HTW-Professoren werden ausscheiden, rechnet Ehses vor. „In meiner Blase der Jungwissenschaftler stehen viele vor demselben Problem, vor dem auch ich stand“, sagt Sebastian Rahn. So etwas hört HTW-Mann Markus Ehses gerne. Er ist daher zuversichtlich, dass zumindest einige bald denselben Weg wie der 34-jährige „Nachwuchsprofessor für Sozialisation, Erziehung und Bildung über die Lebensalter“ (Rahns Lehrstuhltitel) gehen.