Saar-Uni Wenn die KI den Wirkstoff wählt
Saarbrücken · Die Saar-Uni ist mit einem Projekt zur Medikamenten-Entwicklung am Computer beim größten deutschen Wissenschaftswettbewerb dabei.

Ein neues Forschungsprojekt der Saar-Uni geht bei der Entwicklung pharmazeutischer Wirkstoffe neue Wege. NextAID setzt auf Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Die Saar-Uni beteiligt sich mit dem Projekt bei der Exzellenzstrategie, dem größten Wissenschaftswettbewerb Deutschlands.
Foto: Getty Images/istock/FotografiaBasicaIm vergangenen Jahr kamen auf Deutschlands Straßen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2776 Menschen ums Leben. Das entspricht nach einer Hochrechnung des Helios Hygiene-Instituts ungefähr der Zahl der Patienten, die sich im Krankenhaus mit einem multiresistenten Erreger infizieren und daran sterben. Doch auch wenn sich die Zahlen ähneln, zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein wesentlicher Unterschied. Die Zahl der Verkehrsopfer sinkt seit Jahrzehnten, die der Todesopfer durch multiresistente Keime steigt. Und sie wird weiter steigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erwartet, dass bis zum Jahr 2050 antibiotikaresistente Erreger weltweit zur Todesursache Nummer eins werden. Gesundheitsexperten sprechen von einer „stillen Pandemie“. Durch die zunehmende Infektionsgefahr wachse auch das Risiko bei an und für sich harmlosen medizinischen Eingriffen, wie zum Beispiel einem Kaiserschnitt.
Effizientere Wirkstoffe mit Hilfe von KI
In den vergangenen drei Jahrzehnten seien viel zu wenige antibakterielle Wirkstoffe entwickelt worden und der Umgang mit den vorhandenen sei viel zu lax gewesen, kritisiert nicht nur die WHO. Neue Medikamente müssten her und zwar schnell. Wissenschaftler der Universität des Saarlands wollen nun die Grundlagen für eine effizientere Wirkstoffentwicklung legen. Sie setzen dabei auf Techniken der Künstlichen Intelligenz (KI), „denn die hat in der jüngsten Vergangenheit riesige Fortschritte gemacht“, sagen Anna Hirsch, Martina Sester und Andrea Volkamer. Die drei Professorinnen der Saar-Universität stehen für den in den vergangenen Jahren in Saarbrücken und Homburg verstärkten Forschungsschwerpunkt NanoBioMed der Hochschule, der Pharmazie, Medizin und Informatik bündelt. Er ist der zweite Hoffnungsträger der Saar-Universität in der Exzellenzstrategie, dem Wissenschaftswettbewerb der deutschen Hochschulen.
45,7 Millionen Euro an Kosten veranschlagt
Der Antrag für den Forschungscluster steht unter der Überschrift NextAID³ (Artificial Intelligence – Drug Design, Development). Andrea Volkamer (Bioinformatik/Fakultät für Mathematik und Informatik), Martina Sester (Immunologie/Medizinische Fakultät) und Anna Hirsch (Pharmazie/Naturwissenschaftlich-Technische Fakultät) wollen mit Methoden der Künstlichen Intelligenz die Suche nach neuen Medikamenten beschleunigen. 45,7 Millionen Euro sind für den Cluster veranschlagt. Seine 25 Arbeitsgruppen stammen jeweils etwa zu einem Drittel aus den drei Fakultäten.
Dr. Zufall allein wird nicht helfen
Bei der wissenschaftlichen Forschung zu Arzneimitteln spielte bis ins vergangene Jahrhundert hinein Dr. Zufall eine große Rolle, erinnert Andrea Volkamer. Ein Beispiel ist Penicillin. Dessen Entdecker Alexander Fleming, so ist es überliefert, entdeckte 1928 nach seiner Rückkehr aus einem Urlaub eine vergessene Petrischale, in der Schimmelpilze eine Bakterienkultur niedergemacht hatten. Aus den Schimmelpilzen isolierte er die keimtötende Substanz, das Penicillin. Diese Entdeckung brachte ihm 1945 den Nobelpreis ein.
Auch wenn die pharmazeutische Forschung seither große Fortschritte gemacht hat, müssen heute für die Entwicklung eines einzigen Medikaments immer noch rund 10 000 Kandidaten unter die Lupe genommen werden. Das kostet sehr viel Geld – bis zu zwei Milliarden Euro – und sehr viel Zeit. Bis zu einem Jahrzehnt kann von den ersten Tests einer Substanz bis zu ihrer Zulassung als Medikament ins Land gehen. Das ist viel zu lange in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich auch die Bedrohungen rasch verändern, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat.
Bei Medikamenten trennt sich spät die Spreu vom Weizen
Das zentrale Problem für Pharmazeuten in der Wirkstoffforschung liege heute darin, dass „wir erst viel zu spät in der Entwicklung feststellen können, ob ein Wirkstoff als Medikament gut genug ist“, erklären Andrea Volkamer, Martina Sester und Anna Hirsch. „Wir müssten diese wichtige Entscheidung viel früher treffen.“ Damit ließe sich nicht nur die Entwicklung neuer Arzneisubstanzen drastisch beschleunigen, auch die Zahl der Labortests und Tierversuche würde deutlich abnehmen.
Diese frühe Vorauswahl soll mit Hilfe lernfähiger Algorithmen möglich werden, die auf Basis bekannter Proteinstrukturen und Arzneistoffe und von Informationen aus der klinischen Praxis den zu einer bestimmten Krankheit passenden Wirkstoff vorhersagen sollen. Nach dieser Substanz könnte die Künstliche Intelligenz dann in den in großen Molekülbibliotheken suchen, die von Wissenschaftlern vieler Fachgebiete angelegt wurden, oder aber Pharmazeuten mit Informationen bei der Entwicklung eines solchen Stoffes zur Seite stehen.
Das Erfahrungspotenzial des Saarbrücker Hips
Das alles wird möglich, weil Pharmazeuten heute bei den meisten Krankheiten wissen, welche Proteine im Körper ein Medikament in seiner Funktion wie beeinflussen muss, um einen aus dem Ruder gelaufenen biochemischen Prozess wieder ins Lot zu bringen. Zu den Details ihres Projekts wollen die drei Forscherinnen in der Vorrunde des Wettbewerbs mehr nicht verraten. Nur so viel: „Auch Naturstoffe werden dabei eine Rolle spielen.“ Das versteht sich allerdings im Grunde von selbst – denn Naturstoffe sind einer der Forschungsschwerpunkte des Saarbrücker Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung (Hips), das zusammen mit der Pharmazie der Saar-Universität eines der Standbeine des Clusterantrags bildet. Am Hips hat gerade das von der EU geförderte Nachwuchsforscher-Programm „Talents“ begonnen, das neue Strategien gegen multiresistente Erreger entwickeln soll. Hips und Saar-Uni haben zudem gemeinsam die Kooperationsplattform PharmaScienceHub gegründet, in der 300 Forscher neue Strategien gegen Infektionen, Krebs oder altersbedingte Krankheiten entwickeln sollen.
„Wir haben bis heute kein wirklich gutes Corona-Medikament mit geringen Nebenwirkungen“, erklären Andrea Volkamer, Martina Sester und Anna Hirsch. Auch diesem Thema werde sich NextAID³ widmen. Wobei der Ansatz jedoch grundsätzlicher Natur sein werde. Ziel sei die Entwicklung einer Blaupause, die es ermögliche, beim Auftauchen eines beliebigen, neuen Pathogens schneller als bisher zu einem Medikament zu finden, das einen Erreger bekämpfen kann.
Was erreicht werden könnte
Beim Wissenschaftswettbewerb, an dem sich die Saar-Universität mit NextAID³ beteiligt, geht es um Projekte der Grundlagenforschung. Schnelle Lösungen aktueller Probleme sind hier also nicht zu erwarten. Gleichwohl verfolgen die drei Professorinnen der Saar-Uni bei ihrem Cluster-Projekt durchaus ein recht konkretes Ziel. Sollte sich die Saar-Universität mit dieser Forschungsidee beim Wettbewerb durchsetzen, sei es denkbar, dass noch während der siebenjährigen Laufzeit dieses Clusters ein erstes mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz entdecktes oder entwickeltes Wirkstoffmolekül den Weg aus den Labors bis zu den klinischen Tests findet.