„Brüssel ist keine Besatzungsmacht”

Brüssel · Europas Top-Beamter ist Dozent an der Saar-Uni. Im Interview erklärt er, was er über den Brexit und über das Saarland denkt.

 Martin Selmayr (Jahrgang 1970) ist Kabinettchef von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission. Er managt die Arbeit der 35 000 Kommissions-Mitarbeiter und berät die politische Führung der Kommission. Bereits seit 2000 unterrichtet Selmayr am Europa-Institut des Saarlandes und kommt dazu regelmäßig nach Saarbrücken. Foto: Europäische Kommission

Martin Selmayr (Jahrgang 1970) ist Kabinettchef von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission. Er managt die Arbeit der 35 000 Kommissions-Mitarbeiter und berät die politische Führung der Kommission. Bereits seit 2000 unterrichtet Selmayr am Europa-Institut des Saarlandes und kommt dazu regelmäßig nach Saarbrücken. Foto: Europäische Kommission

Foto: Europäische Kommission

Martin Selmayr gilt als Europas mächtigster Beamter. Der Kabinettchef des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, ist zudem Professor für Europarecht am Europa-Institut der Saar-Universität. Dort weiht er seine Studenten in die Finessen der EU-Diplomatie ein - etwa im Fall der anstehenden Brexit-Verhandlungen.

Herr Selmayr, welche Rolle spielen Absolventen des Europa-Institutes der Saar-Uni in Brüssel?

Selmayr Ich treffe auf den Gängen der Europäischen Kommission oder des Rates der Europäischen Union immer wieder ehemalige Studenten aus dem Saarland, die es aufgrund ihrer Kenntnisse geschafft haben, in den europäischen Institutionen eine hervorragende Stelle zu bekommen. Wenn die Studierenden am Europa-Institut ihre Ausbildung abgeschlossen haben, gehören sie in aller Regel zu den besten Experten im europäischen Recht in ganz Europa.

Können die am Institut erworbenen Fähigkeiten auch bei den Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens weiterhelfen?

Selmayr Was hier im Saarland seit Jahrzehnten an Sachkompetenz aufgebaut worden ist, ist ein großes Qualitätsmerkmal. Die saarländischen Europarechtsexperten sprechen alle mehrere Sprachen, sind das Arbeiten in einem internationalen Umfeld gewohnt und können über den Tellerrand hinausblicken. Das ist bei komplexen Verhandlungen sicherlich ein Vorteil - auch gegenüber den Briten.

Die Austrittsverhandlungen sind nicht das, was Europa sich gewünscht hat. Was lässt sich unter diesen Umständen als Erfolgsziel definieren?

Selmayr Man kann es mit einem Scheidungsverfahren vergleichen. Ein Erfolg wäre es, wenn das Ganze geordnet abläuft. Es ist wichtig, dass man nicht als Feinde auseinandergeht, sondern sich zivilisiert auseinandersetzt, damit Europäer und Briten auch in Zukunft Freunde bleiben können. Der Brexit hat auch dazu geführt, dass sich die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten gerade in Rom anlässlich des 60. Jahrestags der europäischen Integration erneut die Treue geschworen haben. Wir Europäer sind gerade jetzt überzeugt, dass wir zusammen stärker sind und die globalen Herausforderungen - ob Klimawandel, Sicherheit oder wirtschaftliche Fragen - gemeinsam besser bewältigen können als jeder für sich allein.

Im Moment macht die EU einen sehr geschlossenen Eindruck. Glauben Sie, dass diese Einheit sich auch während der Verhandlungen bewähren wird?

Selmayr Viele haben da negative Prognosen abgegeben, aber sind bisher enttäuscht worden. Ich gehe davon aus, dass das weiterhin so bleibt. Für die EU ist eine geschlossene Haltung eine Existenzfrage. Gerade jetzt, wo Europa vor großen geopolitischen Herausforderungen steht, dürfen wir uns nicht auseinanderdividieren lassen. Das ist in allen europäischen Hauptstädten gut verstanden worden.

Das Streben der EU-Mitglieder zielte bisher auf eine immer engere Union. Ist das weiterhin das Ziel?

Selmayr Das Ziel einer immer engeren Union steht weiterhin in den europäischen Verträgen. Daran hätte sich nur etwas geändert, wenn Großbritannien für den Verbleib in der EU gestimmt hätte. Das ist nicht geschehen, und deshalb bleibt es dabei, dass die Europäer weiterhin daran arbeiten werden, ihr gemeinsames Projekt zu vervollständigen und besser zu machen. Wir brauchen dabei keine Halbzeit-Europäer, wir brauchen Vollzeit-Europäer. Denn der Brexit zeigt: Wer vierzig Jahre lang nur auf Europa geschimpft hat, steht am Ende alleine da.

Großbritannien hat sich lange Zeit als Blockierer erwiesen. Ist das jetzt eine Chance, um Europa so zu gestalten, wie es aus den Absichtserklärungen herauszuhören ist?

Selmayr Großbritannien hat die EU hauptsächlich als Wirtschaftsgemeinschaft gesehen. Das ist sie aber schon lange nicht mehr. Europa hat politische Ziele, soziale Ziele, außenpolitische Ziele. Großbritannien hatte am Ende mehr Ausnahmerechte als Teilnahmepflichten in der Europäischen Union. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass jetzt alles einfacher wird. Auch einen Konsens unter 27 zu finden wird weiterhin schwierig sein. Dabei wird uns der Pragmatismus Großbritanniens, der immer auch zu Lösungen geführt hat, gelegentlich fehlen.

Was bedeutet die Entscheidung von Regierungschefin Theresa May zu Neuwahlen?

Selmayr Wenn Frau May wie zu erwarten ist die Wahlen gewinnt, wird sie mit einem gestärkten Mandat an den Verhandlungstisch kommen, das ihr mehr Spielräume für Kompromisse lässt. Die wird sie nämlich eingehen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass Frau May nach den Wahlen die Stärke haben wird, das, was sie selbst für vernünftig hält, in ihrem eigenen Land und vor allem in ihrer eigenen Partei auch durchzusetzen. Bisher hat ihr als ungewählter Regierungschefin dazu die nötige Manövrierfähigkeit gefehlt.

Werden die Verhandlungen also erst beginnen, nachdem die Wahlen in Großbritannien abgeschlossen sind?

Selmayr Das kann nicht anders sein. Nach der offiziellen Austrittserklärung Ende März müssen sich die 27 Staaten jetzt zuerst auf eine gemeinsame Verhandlungsposition einigen. Dafür werden wir bis Ende Mai brauchen. Mit den Wahlen Anfang Juni nutzt Frau May genau dieses Zeitfenster. Mitte Juni sind wir dann in der Lage, uns an den gemeinsamen Verhandlungstisch zu setzen.

Die EU gilt als Projekt der Vernunft, beim Brexit haben aber eher Emotionen die Hauptrolle gespielt. Da wurden auch sehr harte Töne angeschlagen. Kann man das bei den Verhandlungen ausblenden?

Selmayr Man muss unterscheiden zwischen dem Schlachtengetümmel in den Boulevard-Zeitungen und dem, was im Verhandlungssaal stattfindet. Da darf man sich von der aggressiven britischen Presse nicht kirre machen lassen. Die britische Presse ist auf Vernichtung des als Feind empfundenen Gegners aus. Das geht regelmäßig unter die Gürtellinie. Da muss man professionell drüberstehen, auch wenn das nicht immer einfach ist.

Auch auf dem Kontinent gibt es gewisse Ermüdungserscheinungen, was die EU betrifft. Viele beklagen die abgehobene Bürokratie in Brüssel. Wie kann es gelingen, die Menschen wieder mehr von Europa zu überzeugen?

Selmayr Es wird nichts in Europa entschieden, woran nicht die Regierungschefs oder Minister aller Länder beteiligt sind. Die EU ist ein freiwilliger Zusammenschluss, und Brüssel ist keine Besatzungsmacht. Deswegen müssen wir damit aufhören, für alles irgendwelche angeblich fernen Bürokaten verantwortlich zu machen. In einer Welt von Trump, Brexit, Putin und Erdogan werden sich viele aber auch zunehmend wieder bewusst, was sie an Europa und an unseren gemeinsamen europäischen Werten haben. Ich sehe da mit großer Freude, dass zum ersten Mal seit Jahren wieder Menschen auf den Marktplätzen für Europa Flagge zeigen. Dieses Bewusstsein müssen wir vor Ort fördern. In Saarbrücken funktioniert das übrigens auf vorbildliche Weise.

Bei den angesprochenen proeuropäischen Demonstrationen gehen viele Studenten auf die Straße. Gleichzeitig gibt es vor allem in Südeuropa eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine Anti-Europa-Stimmung. Ist die EU nur etwas für Bildungsgewinner?

Selmayr Es ist völlig richtig, dass wir in den südlichen Ländern seit der Finanzkrise eine inakzeptabel hohe Jugendarbeitslosigkeit haben. Das kann aber nur derjenige ändern, der die Arbeitsmarktpolitik regelt, und das sind nun einmal die nationalen Regierungen. Europa kann etwas helfen, aber die wirklichen Hebel hat der jeweilige nationale Wirtschafts- und Arbeitsminister in der Hand. Bei der Bildungspolitik ist es genauso. Europa kann hier vor allem Brücken bauen, wie etwa durch das Erasmus-Programm. An dem können übrigens nicht nur Studenten teilnehmen, sondern auch Auszubildende und junge Arbeitnehmer.

Werden Sie auch während der Brexit-Verhandlungen an die Saar-Uni zurückkehren?

Selmayr Der Brexit darf kein Grund sein, die Arbeit am europäischen Projekt einzustellen, im Gegenteil. Ich bin deshalb auch weiterhin regelmäßig an der Universität des Saarlandes, um Studierende aus der ganzen Welt in Fragen des EU-Rechts zu unterrichten. Ich habe gerade auf meinem Schreibtisch rund 50 Klausuren meiner Studenten liegen, die korrigiert werden müssen. Ich bin jetzt mit der Hälfte durch und plane, sie fristgerecht abzugeben.

Die Fragen stellte

Christian Leistenschneider.

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Das Europa-Institut der Universität des Saarlandes ist das zweitälteste Institut seiner Art in Europa. Es wurde im Jahr 1951 gegründet. Seit über dreißig Jahren bietet das Institut den international renommierten Masterstudiengang im Europäischen und Internationalen Recht an. Seitdem haben ihn mehr als 5000 Studenten erfolgreich durchlaufen. International renommierte Wissenschaftler und Gastdozenten aus aller Welt lehren am Europa-Institut. Die institutseigenen Bibliothek ist gleichzeitig auch Europäisches Dokumentationszentrum. www.europainstitut.de

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