Historisches Museum Saar Als Saarländer noch Hüte trugen
Saarbrücken · Breitentauglich und munter: Das Historische Museum Saar landet mit seiner 20er-Jahre-Ausstellung einen Volltreffer.
Schon mal im Museum Charleston getanzt? Die Twenties, die brachten schließlich erstmals Massen-Vergnügen, und die legendäre Tanzlokal- und Caféhaus-Kultur, die gab es auch in der Provinz, im „Saargebiet“. Also hat das Team des Historischen Museums Saar einen jungen Tänzer engagiert, der in einem Video zeigt, wie Charleston geht. Juckt es den Besucher in den Beinen, macht er mit. Dafür wurde vor der Ausstellungsstation, die die „goldenen“, die „wilden Twenties“ beleuchtet, eigens Platz frei geräumt. Mitunter gehen schummrige Lichter an, dank einer eigens entwickelten Nachtstimmungs-Beleuchtung. Auf Effekte und Atmosphäre legt man in dieser Schau großen Wert. Auf steile Thesen weniger.
Die erkennbar einzige Arbeitshypothese, die die Ausstellungsmacher mit ihrer neuen 20er-Jahre-Schau zu belegen versuchen, lautet, dass es im Alltagsleben der Bürger keinen saarländischen Sonderweg in die Moderne gab, allen politischen Ausnahmereglungen für die unter internationale Völkerbund-Aufsicht gestellte Industriezone „Saarkohlebecken“ zum Trotz. Schließlich könnte man mutmaßen, dass durch die Bürokratie einer multinationalen Regierungskommission und durch den dominanten Einfluss der Franzosen in den Zwanzigern an der Saar eine „Metropole des Westens“ entstand, so verkünden es zumindest historische Werbeplakate. Doch Saarbrücken tickte keinesfalls wie das exzentrisch-exzessive Berlin aus der Fernsehserie „Babylon Berlin“. Wer das sucht, wird in der Schau nicht fündig.
Vielmehr war man in Saarbrücken nicht mehr oder weniger gespalten zwischen Tradition und Aufbruchstendenzen, Armut und Amüsement, wie in anderen ähnlich großen Städten. Diese Parallelität recherchierte das Team von Museumschef Simon Matzerath im Vorfeld der Schau, förderte dann aber doch ein paar saarländische Eigenheiten zu Tage. Etwa den höheren Wohlstand und Komfort, den die Bürger dank der Einführung des französischen Francs und bester Kontakte zu französischen Unternehmen genossen, und der sich unter anderem in einer sagenhaften Automobildichte zeigte. In Saarbrücken schoss der Bestand 1923/24 um 87,2 Prozent auf 4462 Fahrzeuge hoch – höher als in Berlin oder Hamburg, gemessen an der Einwohnerzahl.
Auch die Mode, die sich weltweit am Pariser Chic orientierte, war im Saarland wohl ein wenig stiltreuer als andernorts, weil man originäre französische Bezugsquellen nutzen konnte. Bisher nie gezeigte Fotos aus privaten Beständen belegen, dass die „neue Frau“, die Bubikopf trug und nicht mehr als Dienstmädchen, sondern als Sekretärin arbeitete, nicht nur auf der Saarbrücker Bahnhofstraße flanierte, sondern auch in Merchweiler oder in Fechingen anzutreffen war. Zugleich wird die existenzielle Not vieler Frauen nicht ausgespart, die oft ohne Arzt selbst abtrieben, um der Familie weitere fressende Münder zu ersparen. Tausende starben, der Paragraph 218 war schon damals ein Zeitungs-Thema. Und ein Sujet fürs Kino, man fasst es kaum, sieht man Ausschnitte aus dem sensationellen Aufklärungsfilm „Kreuzzug des Weibes“ (1926).
Auch die Erkenntnis, dass es bereits in den 20ern das Genre Western gab, und dass der Ufa-Streifen „Das Weib des Pharao“ (1922) von einem Mitglied der jüdischen Gemeinde Saarbrücken mitproduziert wurde, nimmt man aus dem Rundgang mit. Generell wird dem Thema Kino eine herausragende Rolle zugestanden. Etwa 38 Kinos gab es laut Ausstellungsmachern im Saargebiet, davon bis zu zehn in Saarbrücken, in denen allein zwischen 1920 und 1929 rund 1500 Filme liefen. In einem Kinosaal im Obergeschoss lassen sich aus einem Touchscreen etwa 700 Titel, oft auch Filmausschnitte abrufen. Die Stummfilm-Ära brachte mit den ersten Diven die Geburtsstunde des bis heute aktuellen Starkults als Massenphänomen, eine Ersatzdroge in wirren Zeiten.
Ähnlich nah ans Heute heran rückt die Ausstellung mit dem Thema Elektrifizierung. Die 20er Jahre waren die Zeit des Kohle-Kraftwerkbaus, denn der moderne Haushalt legte Wert auf Strom betriebene Elektrogeräte, davon erzählen Vampir-Sauger und Dauerwellengeräte, die wie Foltermaschinen anmuten. Der Bergarbeiterstreik von 1923 legte nicht nur Industriebetriebe lahm, er traf erstmals in der Breite auch Privathaushalte – Vorbote einer komplex vernetzten Welt.
Was sollte man noch erwähnen? Dass das Ganze in einer abstrahierten Straßenkulisse mit Original-Fahrrädern und Motorrädern und Litfass-Säulen spielt, wie klug die Kuratorin Jessica Siebeneich Gemälde der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz eingebunden hat, und wie viele kleine, feine Entdeckungen man machen kann. Etwa, dass es damals schon eine Frauen-Handballmannschaft gab und eine Moschee für französisch-marokkanische Soldaten in Saarbrücken stand.
Die Ausstellung reiht sich ein in die „Saarhundert“-Aktivitäten der Landesregierung; 2020 feiert man das hundertjährige Bestehen des Saarlandes. Als dessen „Geburtsstunde“ gilt das Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920, doch im kollektiven Gedächtnis spielt dieses historische Datum kaum eine Rolle. Wie generell die Twenties dazu verdammt scheinen, als Vorgeschichte der NS-Zeit abgehandelt zu werden. Hier nicht. Obwohl die „Twenties“ auch im Historischen Museum fünfzehn Jahre dauern. Der Rundgang endet mit der vom Völkerbund garantierten Volksabstimmung 1935, bei der 90,4 Prozent der Saarländer zurück wollten „heim ins Reich“, das freilich bereits eine Nazi-Diktatur war. Was für ein zentrales Kapitel in der Saar-Geschichte, hier klugerweise nur gestreift. Denn es wird eine Etage tiefer, in der Ständigen Ausstellung, ausführlich abgehandelt. Nein, Eulen nach Athen tragen, sprich Besterforschtes wiederholen, das wollte das Team nicht. Das klappt wunderbar.