Hier wird Ortsgeschichte lebendig dargeboten

Freisen · Im Saarland gibt es rund 100 Museen, in denen die Besucher den Lebenswegen und den Arbeitswelten der Vorfahren begegnen können. In einer Serie, die mit diesem Teil endet, haben wir in Heimatmuseen Antworten auf die Frage gesucht: „Wie war das anno dazumal?“

 In einem komplett sanierten südwestdeutschen Einhaus befindet sich das Landwirtschaftsmuseum Reitscheid. Die historischen Maschinen und Wagen sind Ausstellungsstücke. Foto: Museum

In einem komplett sanierten südwestdeutschen Einhaus befindet sich das Landwirtschaftsmuseum Reitscheid. Die historischen Maschinen und Wagen sind Ausstellungsstücke. Foto: Museum

Foto: Museum

Auf meiner Fahrt ins nördliche Saarland nach Freisen fahre ich durch Dörfer mit renovierten Bauernhäusern. Es ist eine ländliche Idylle - manchmal wie gemalt. Dann bin ich am Ziel in Freisen-Reitscheid vor dem Landwirtschaftsmuseum, einem großem südwestdeutschen Bauern- oder Einhaus, bei dem Wohnung, Stallungen und Scheune unter einem Dach vereint sind.

Bürgermeister Karl-Josef Scheer und Aloys-Josef Schaadt, der mir das Museum zeigen will, schließen auf. Wir gehen rein und stehen direkt in der guten Stube mit Sitzecke und altem Geschirrschrank, einem Schaukelpferd neben einem grünen Sessel und einem alten schwarzen Ofen. Alles ist gepflegt und aufgeräumt.

Das zweistöckige und voll unterkellerte Haus wurde 1862, so habe ich nachgelesen, gebaut und wurde zuletzt von einem Junggesellen bewohnt und bewirtschaftet. Ringsum liegen Wiesen, gegenüber stehen schöne große alte Bauernhäuser. Bürgermeister Scheer erzählt, dass die Großgemeinde Freisen rund 8200 Einwohner und Reitscheid rund 500 Bewohner hat und dass hier viele Bergleute wohnten, die in der Grube Reden unter Tage arbeiteten und deren Frauen die Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben. "Aber das ist lange vorbei", sagt der Bürgermeister. ,,Und heute?", frage ich. "Wir haben einige Aussiedlerhöfe. Und es gibt auch einige Familien, die Schafe und Ziegen halten." Er verabschiedet sich.

Museumsleiter Aloys-Josef Schaadt führt mich rum und erzählt dabei, dass er 1950 geboren wurde und hier aufgewachsen und zur Schule gegangen ist: "Ich war immer hier. Hier ist meine Heimat." Er zeigt auf den grünen Sessel : "Der hat eine eigene Geschichte. Der stand früher in der Staatskanzlei, als Franz-Josef Röder Ministerpräsident war." ,,Und wie ist der hierher gekommen?", will ich wissen. "Keine Ahnung: irgendwie", sagt er.

Wir gehen im Erdgeschoss durch die Wohnräume, durch die Küche mit dem alten Stahlherd und den Regalen mit alten Töpfen und Tellern sowie Haushaltsgegenständen, wie man sie vor 100 Jahren und auch noch in den 1950er und 1960er Jahren benutzte. Auf einem Schrank stehen alte Radios. Mein Begleiter erzählt: "Wir haben hier auch mal eine Ausstellung mit 250 alten Radios gemacht." Dann zeigt er stolz auf das Gästebuch, das auf einem kleinen Tisch liegt: "Da hat sich auch die Ministerpräsidentin eingetragen." Aloys-Josef Schaadt schlägt die Seite auf. Dort liest man: ,,Man entdeckt immer was Neues. Heute ein echtes Kleinod! - Herzlichen Dank - Ihre Annegret Kramp-Karrenbauer - 25/4/12".

An der Wand hängen zwei große Porträtfotos von den Eigentümern, die das Haus 1862 erbauten, von Maria Marianne Scheid, geborene Alles, geboren am 3. März 1854, gestorben am 14. November 1929, und von Ehemann Nikolaus Scheid, geboren am 26. Oktober 1856, gestorben am 15. August 1929. "Wie lange wurde das Haus bewohnt?" frage ich. "Bis 1977 von Johann Scheid. Der war Junggeselle. Dann stand es leer und war sogar ziemlich verfallen."

Ich frage weiter und will erfahren, wie und wann das Anwesen wieder aufgebaut und renoviert wurde. Schaadt erklärt: "Die Gemeinde Freisen hat das Haus und das große Grundstück gekauft mit dem Ziel, hier ein altes Bauernhaus, so wie es früher war, als Museum einzurichten. Mit den Bauarbeiten wurde 1991 begonnen. Das Haus war in desolatem Zustand. Das Dach war teilweise zusammengebrochen. Die Renovierung und der Wiederaufbau waren 1994 fertig. Finanziert wurde das von der Gemeinde und vom Landkreis St. Wendel. Denkmalschützer beaufsichtigten den Wiederaufbau."

Wir gehen hoch in den ersten Stock, vorbei am Schlafzimmer mit den rotgeblümten Bettdecken auf dem Doppelbett. Vom Schlafzimmer geht es rüber in die Wirtschaftsräume und Stallungen. Mein Begleiter zeigt nach oben und erzählt: "Da ist ein neues Dach darauf, mit Biberschwänzen statt Dachziegeln. Biberschwänze hat es vorher hier auf keinem Dach gegeben. Überall mussten die Holzfenster erneuert werden." Wir gehen runter in die Stallungen: ,,Auch hier musste alles isoliert werden. Sonst würde man bei schlechtem Wetter in knöcheltiefen Pfützen stehen. Und über dem Pferdestall sowie an vielen anderen Stellen mussten Gebälk und Deckenleisten neu eingebaut werden. Viel, viel Arbeit war das."

Wir gehen runter in den Keller. Der Museumschef zeigt zur Decke: "Hier wurde das Gewölbe hergerichtet und es wurden Tische und Stühle reingeholt. Sogar die Wasserpumpe im Wirtschaftsraum wurde wieder angeschlossen. Hier unten machen wir unsere Versammlungen und feiern auch mal, wenn es was zu feiern gibt."

,,Was hat das alles gekostet, damals so etwa 300 000 Mark?", frage ich. Schaadt erwidert nachdenklich: "Das reicht noch lange nicht."

Am Ende unseres Rundgangs bleibt der "Hausherr" in der Haustür stehen und fragt: "Können Sie sich vorstellen, dass es hier in unserem friedlichen Dorf mit rund 500 Einwohnern drei Gastwirtschaften gab und dass ein Gasthaus ,Zur Rakete‘ hieß?" - ,,Warum ,Zur Rakete‘?." - "Hier war von 1961 bis 1981 eine Raketenstation der US-Armee. 250 Soldaten waren hier stationiert." - "Hier in diesem friedlichen Dorf gab es US-Raketen?" Schaadt nickt und meint: "Es waren Stellungen für Nike- und Herkules-Raketen. Lange her…"

Ich verabschiede mich und fahre wieder zurück durch die grüne Landschaft. Alles ist ruhig, alles ist friedlich. Hier sollen US-Raketenstellungen gewesen sein? Zu Hause finde ich in den üblichen Beschreibungen über Freisen , Reitscheid und das nördliche Saarland kein Wort darüber. Als ich im Internet bei Google "Reitscheid" und "US-Raketen" eingebe, finde ich die Antwort. Unter dem Datum 6. September 1985 liest man im Portal www.chroniknet.de: "Bei einem Bombenanschlag auf einen Stützpunkt der US-Armee im saarländischen Freisen-Reitscheid werden drei auf Anhängern montierte mobile Radarstationen für Hawk-Luftabwehrraketen zerstört. Menschen werden bei dem Attentat nicht verletzt. Die Täter werden im Umkreis der sog. Rote-Armee-Fraktion vermutet."

Manchmal wird man von der Vergangenheit eingeholt. In Reitscheid war früher eine US-Raketenstellung. Was wäre hier geschehen im Ernstfall?

 So sah es einst in einer typischen Dorfküche aus. Das Essen für die Familie wurde auf einem Gussherd gekocht. Fotos: D. Gräbner

So sah es einst in einer typischen Dorfküche aus. Das Essen für die Familie wurde auf einem Gussherd gekocht. Fotos: D. Gräbner

 Aloys-Josef Schaadt sitzt in einem Sessel „mit Geschichte“.

Aloys-Josef Schaadt sitzt in einem Sessel „mit Geschichte“.

Zum Thema:

Auf einen BlickKontakt: Landwirtschaftsmuseum Reitscheid, Grügelborner Straße 3, 66629 Freisen , Tel.: (0 68 57) 3 54. Öffnungszeiten: Von April bis Oktober an jedem ersten Sonntag im Monat von 13 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung. Der Eintritt ist frei. gräbfreisen.de

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