„Grenze des Zumutbaren ist erreicht“

Saarbrücken · Der Lehrer-Verband Reale Bildung klagt über die Inklusions-Praxis. Das Nachsehen hätten Regel- und Förderschulkinder.

 Zwei Lehrer pro Klasse, in der behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden, fordert der Verband Reale Bildung. Foto: dpa

Zwei Lehrer pro Klasse, in der behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden, fordert der Verband Reale Bildung. Foto: dpa

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Wer Lehrer nach den aktuell größten Herausforderungen fragt, hört immer auch das Wort Inklusion. Für den Verband Reale Bildung (VRB), der Lehrer an Gemeinschafts- und Förderschulen vertritt, stellt die Aufgabe, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, unter den gegenwärtigen Bedingungen eine bald nicht zu stemmende Belastung dar. "Die Grenze des Zumutbaren für die Leistungsfähigkeit der Lehrkräfte und ihrer Gesundheit ist absehbar", sagt die VRB-Vorsitzende Karen Claassen. Der Verband wiederholt daher seine Forderung nach einem vorläufigen Stopp der Inklusion. "Wir wollen niemanden diskriminieren und sind auch überhaupt nicht dagegen, dass Kinder mit Einschränkungen in Regelklassen kommen. Das gab es schon immer", betont Claassen. Doch seien es heutzutage ungleich mehr - und die Voraussetzungen seien dafür nicht geschaffen worden.

Das zeige auch eine Umfrage, die der VRB an alle Gemeinschaftsschulen geschickt hat. "Die Kollegen wünschen sich mehr Fortbildungen und auch von Seiten des Ministeriums mehr Verständnis für ihre Sorgen", sagt Claassen. Inklusion sei eine gute Sache, wenn sie zum Wohle aller ist und eine wirkliche Teilhabe aller Kinder bedeutet. "Aber die Teilhabe aller ist gegenwärtig nicht mehr gewährleistet", sagt sie. In Klassen mit vielen Inklusionskindern würden die Lehrer nicht immer allen gerecht. "Insbesondere die Schüler mit Förderbedarf geistiger sowie emotional-sozialer Entwicklung fordern unheimlich viel Aufmerksamkeit. Für den normalen Regelschüler bleibt nicht mehr so viel Zeit."

Zum einen gebe es zu wenig Förderschullehrer, die Regelschullehrer unterstützten. "Sie können nur punktuell die Förderschüler unterstützen, vor allem in den Hauptfächern. Es gibt Kollegen, die Nebenfächer unterrichten, die noch nie Hilfe durch Förderlehrer hatten." So seien die Vorgaben der Lehrpläne nicht immer einzuhalten. Im Chemie-Unterricht könnten nicht alle Experimente durchgeführt werden, wenn der Lehrer nicht einschätzen könne, wie sich das Kind mit emotional-sozialem Förderbedarf verhält, wenn der Brenner an ist.

Aber auch Förderkinder erhielten nicht die optimale Förderung. "Viele brauchen eine enge Bezugsperson, das ist aber mit dem Fachlehrerprinzip, wo manche Lehrer die Klasse nur zwei Stunden pro Woche sehen, nicht möglich", sagt Claassen. Kinder mit Förderbedarf würden teilweise in ungeeigneten Räumen beschult ohne ausreichend Platz oder Rückzugsorten. Unterrichtsformen wie etwa die Gruppenarbeit eigneten sich nicht für manche Förderkinder. "Ein Zappelphilipp braucht Struktur und kann mit selbstständigem Lernen nicht gut umgehen."

Um die Situation für alle zu verbessern, fordert der VRB daher Klassengrößen von 23 Schülern - wobei inklusiv beschulte Kinder doppelt zählen - sowie eine Besetzung der Klassen mit zwei Lehrern. An den Schulen müsse es multiprofessionelle Teams aus Psychologen, Krankenschwestern, Therapeuten und Lehrern geben. Den Lehrern müssten Freiräume geboten werden, die sie für Fortbildungen zum Thema Inklusion und den Austausch mit den Förderschulkollegen nutzen könnten.

"Es gibt noch kein funktionierendes Konzept, wie man der Vielzahl der Förderkinder gerecht wird. Es braucht mehr Geld für Lehrer, Materialien und den Umbau von Schulen. Solange die Mittel nicht da sind, sollte die Inklusion zum Wohle aller langsam angegangen werden", sagt die Pädagogin.

Der Verband spricht sich für den Erhalt der Förderschulen aus, auch um Eltern die Wahlfreiheit zu lassen. Die UN-Konvention, die Grundlage für die Einführung der Inklusion, schreibe nicht ihre Abschaffung vor. "Sie fordert die Teilhabe aller am allgemeinen Bildungssystem", sagt Claassen. Die Kultusministerkonferenz definiere jedoch Förderschulen als Teil dieses allgemeinen Bildungssystems. Dennoch habe Handlungsbedarf bestanden: "Es fehlte an Förderschulen die Teilhabe am allgemeinen Leben. Aber dies hätte auch durch Kooperationen erreicht werden können." Den Förderschulen würden Lehrer entzogen, was zu Schulschließungen führen werde. "Obwohl der Anteil der Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen steigt, gibt es seit Einführung der Inklusion nicht weniger Kinder an Förderschulen", meint Claassen. Es sei problematisch, dass an Grundschulen keine Diagnostik des Förderbedarfs mehr durchgeführt werden dürfe. "Aber für uns wäre es wichtig, wer mit welchem Bedarf zu uns in die 5. Klasse kommt, um gezielt fördern zu können."

 VRB-Vorsitzende Karen Claassen Foto: Wollscheid/VRB

VRB-Vorsitzende Karen Claassen Foto: Wollscheid/VRB

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Ein Schwarz oder Weiß gebe es nicht: "Wir sehen Kinder, die sehr glücklich darüber sind, eine Regelschule besuchen zu können und die den Besuch der Förderschule als Stigma empfunden haben", sagt sie. Aber es gebe eben auch den umgekehrten Fall: "Sie werden in Regelschulen nicht glücklich, weil sie sehen, dass sie andere Aufgaben als die anderen bekommen und merken, dass sie anders sind und darunter leiden."

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