Feinheiten fügen sich zu einem großen FestDer Gedanke an die Schwester treibt ihn ins Ziel

St. Wendel. Die Startnummer eins, die jedes Kind beim Kids-Race erhält. Das unerschöpfliche Reservoir an Geschichten und Anekdoten, die Streckensprecher Karl-Heinz Wagner über fünf Stunden lang erzählt. Oder den evangelischen Gottesdienst, den Pfarrer Gerhard Koepke in der Kirche direkt neben der Ziellinie passend zum Marathon exakt 42 Minuten lang hält

 Auflauf oder Kopfsalat? Bei bestem Wetter machten sich die vielen Teilnehmer des St. Wendel Marathon gestern auf die Strecke. Die meisten von ihnen wählten den Halbmarathon als Distanz aus. Fotos: Bonenberger & Klos

Auflauf oder Kopfsalat? Bei bestem Wetter machten sich die vielen Teilnehmer des St. Wendel Marathon gestern auf die Strecke. Die meisten von ihnen wählten den Halbmarathon als Distanz aus. Fotos: Bonenberger & Klos

St. Wendel. Die Startnummer eins, die jedes Kind beim Kids-Race erhält. Das unerschöpfliche Reservoir an Geschichten und Anekdoten, die Streckensprecher Karl-Heinz Wagner über fünf Stunden lang erzählt. Oder den evangelischen Gottesdienst, den Pfarrer Gerhard Koepke in der Kirche direkt neben der Ziellinie passend zum Marathon exakt 42 Minuten lang hält. Es sind die kleinen Details, die Feinheiten, die eine Veranstaltung zu einem Erfolg machen. Klaus Bouillon, Bürgermeister in St. Wendel, weiß das. "Wir können mit den ganz großen Stadtmarathons nicht mithalten, deshalb müssen wir mit Kleinigkeiten punkten", sagt der Stadtvater, der immer noch sichtlich Spaß an all dem Trubel hat. "Bei uns gilt der Grundsatz: Wir behandeln den Letzten im Ziel genauso wie den Ersten."Der St. Wendel Marathon hatte gestern trotzdem weniger Teilnehmer als die Jahre zuvor, knapp 2000 waren insgesamt im Ziel. Aber erstens war das wegen des Termins vorher abzusehen, und zweitens störte sich auch so richtig keiner daran. "Nächstes Jahr werden es wieder mehr sein", sagte denn auch Organisationsleiter Thomas Wüst lapidar.

Dabei war das Wetter optimal, zumindest für Marathon-Zuschauer. Einigen Läufern machte die Kombination aus Hitze und Wind allerdings zu schaffen. Exemplarisch dafür stand eine 25-köpfige Gruppe, die mit den Tempomachern Ruben Schmitz und Markus Kaiser die Drei-Stunden-Marke beim Marathon knacken wollte. Am Ende war nur noch Steffen Müller aus Altenglan übrig. Alle anderen mussten Hitze und Wind Tribut zollen. "Bei solchen Bedingungen muss man aufpassen. Wer am Anfang zu viel investiert, kriegt später brutale Probleme", sagt Kaiser, Triathlet und Ironman-Teilnehmer. Müller jedoch nicht: "Ich war ganz locker", sagte er im Ziel.

Die Mehrzahl der Läufer gestern (knapp 1300) nahm von vorneherein lieber die halbe Strecke in Angriff. Mehr als zweieinhalb Minuten brauchte das Halbmarathon-Feld, um über die Startlinie zu laufen. Nach 1:13,27 Stunden kam Sammy Schu als erster wieder über den roten Teppich ins Ziel. Der A-Junior siegte mit fast 3:30 Minuten Vorsprung vor Frank Sehn (VfA Neunkirchen). "Es war ein gutes Rennen, leider war ich schnell alleine auf der Strecke", sagt der Überraschungssieger. Hat ihn der teils sehr heftig wehende Wind gestört? "Nein, der war eher angenehm. Er hat ein bisschen gekühlt." Dritter wurde Carsten Herrmann aus Mehlingen. Bei den Frauen siegte Birgit Meier (1:34,02 Stunden) aus Heddesheim vor Kerstin Bock (1:34,44 Stunden, Grojos LTF Elversberg) und Nadine Hassdenteufel (1:34,56 Stunden, Namborn). St. Wendel. Nach einem Marathon gibt es viele Geschichten zu erzählen. Die meisten Läufer berichten von ihrem Kampf gegen den Wind, gegen die Hitze, gegen die Uhr, gegen sich selbst. Alle wollen sie ins Ziel, um sich und anderen zu beweisen, dass sie der Herausforderung gewachsen sind. Auch Klaus Schmitt wollte gestern das Ziel des Halbmarathons erreichen, und wahrscheinlich hat er sich mehr darauf gefreut als alle anderen. Aber nicht um etwas zu beweisen, nicht um eine Zeit zu laufen, sondern nur, um seine Schwester zu umarmen.

Das hatte er sich vor 100 Tagen geschworen, und jetzt ist es soweit. Seine Schwester Christine Neumann steht im Ziel, mit Sonnenbrille, Mütze und Gesichtsschutz. Sie ist noch schwach, die Umarmung muss vorsichtig passieren, und doch ist es ein Wunder, dass sie überhaupt im Zielbereich stehen kann. Denn vor 100 Tagen spendete Klaus Schmitt seiner Schwester Christine Neumann Stammzellen aus seinem Knochenmark. Christine war an Leukämie erkrankt. "Ich habe ihr immer wieder gesagt: Wir werden das schaffen, wir werden uns in St. Wendel im Ziel sehen. Und jetzt ist es tatsächlich passiert. Das ist so wunderbar", sagt Schmitt. Erst am Freitag stand überhaupt fest, dass Christine das Krankenhaus verlassen konnte. Sie ging durch die Hölle der Chemotherapie, wusste nie, ob sie überlebt. "Ich hatte diesen Tag hier immer im Hinterkopf. Es hilft, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Klaus ist mein Lebensretter", sagt sie. Sie besitzt jetzt seine Blutgruppe, wird seine Haarfarbe kriegen "und vielleicht auch sein Laufgen", sagt sie scherzhaft.

Beide wollen sich für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei engagieren und andere Leute dazu ermutigen, sich typisieren zu lassen. "Es ist kein großer Aufwand und es lohnt sich. Man bekommt soviel zurück, wenn man das tut, und man rettet Leben", sagt Schmitt. Seine Schwester will ein Buch schreiben, möchte anderen Leuten Mut machen, trotz der vernichtenden Diagnose nicht aufzugeben.

 Stolzer Halbmarathon-Absolvent: Klaus Schmitt, links, mit Schwager Arthur, seiner Schwester Christine Neumann und Ehefrau Iris.

Stolzer Halbmarathon-Absolvent: Klaus Schmitt, links, mit Schwager Arthur, seiner Schwester Christine Neumann und Ehefrau Iris.

 Sammy Schu gewann souverän den Halbmarathon.

Sammy Schu gewann souverän den Halbmarathon.

 Auflauf oder Kopfsalat? Bei bestem Wetter machten sich die vielen Teilnehmer des St. Wendel Marathon gestern auf die Strecke. Die meisten von ihnen wählten den Halbmarathon als Distanz aus. Fotos: Bonenberger & Klos

Auflauf oder Kopfsalat? Bei bestem Wetter machten sich die vielen Teilnehmer des St. Wendel Marathon gestern auf die Strecke. Die meisten von ihnen wählten den Halbmarathon als Distanz aus. Fotos: Bonenberger & Klos

 Stolzer Halbmarathon-Absolvent: Klaus Schmitt, links, mit Schwager Arthur, seiner Schwester Christine Neumann und Ehefrau Iris.

Stolzer Halbmarathon-Absolvent: Klaus Schmitt, links, mit Schwager Arthur, seiner Schwester Christine Neumann und Ehefrau Iris.

 Sammy Schu gewann souverän den Halbmarathon.

Sammy Schu gewann souverän den Halbmarathon.

Der 53-jährige Schmitt hat den Halbmarathon übrigens in 2:20,41 Stunden absolviert, etwa fünf Minuten langsamer, als der Quierschieder wollte. Was für die anderen Läufer, die um ihn herum im Ziel eintrudeln, ein Grund zur Frustration gewesen wäre, interessiert ihn kaum. Er hat sein Ziel erreicht, seine Schwester lebt noch, dank ihm. Ein Marathon schreibt viele Geschichten, in St. Wendel war diese gestern vielleicht die schönste. msc

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