Fachtagung in Eppelborn „Kinderarmut nicht länger hinnehmen“

Saarbrücken/Neunkirchen · Medizinerin schlägt Alarm: Saarlandweit ist jedes vierte Kind von Armut betroffen. Heute Fachtagung in Eppelborn.

 Kinderarmut kann sich unter anderem im Mangel existenzieller Güter wie etwa Schuhen ausdrücken.

Kinderarmut kann sich unter anderem im Mangel existenzieller Güter wie etwa Schuhen ausdrücken.

Foto: dpa/Christian Charisius

Am heutigen Montag, 10. September, veranstaltet der Arbeitskreis Kindergesundheit des Landkreises Neunkirchen die Fachtagung „Das Kindergesicht von Armut – Gesundheitsförderung bei sozialer Benachteiligung“ in Eppelborn. Vorab sprach die SZ mit Dr. Lieselotte Simon-Stolz vom Arbeitskreis über die physischen und psychischen Konsequenzen für von Armut betroffene Kinder sowie über regionale und überregionale Lösungsvorschläge.

Ab wann gilt ein Kind in Deutschland als arm?

SIMON-STOLZ Kinderarmut hat viele Aspekte. Insgesamt handelt es sich um einen Mangel an Mitteln und Möglichkeiten, das Leben so zu leben und zu gestalten, wie es in unserer Gesellschaft üblicherweise möglich ist. Wir sprechen also von sozialer Ungleichheit, die die Betroffenen daran hindert, sich ihrer persönlichen Fähigkeiten entsprechend zu entfalten und selbstbestimmt am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen. Nach der von der EU und der Bundesregierung verwendeten Armutsdefinition beginnt das Einkommens-Armutsrisiko bei 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens. Nach der sozialstaatlich definierten Armutsgrenze gelten diejenigen Kinder als arm, die in Haushalten leben, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind, also Leistungen nach SGB II (Hartz IV) beziehen. Wenn man von der Lebenslage ausgeht und qualitative und nicht nur Einkommen als Kriterien für das Arm-Sein anlegt, sprechen wir von zwei bis drei Millionen betroffenen Kindern bundesweit.

Welche Konsequenzen hat Armut für Kinder?

SIMON-STOLZ Kinder gehören zu den Hauptbetroffenen und sind die verletzlichste Gruppe. Sie erleben häufig einen Mangel und alltäglichen Verzicht in der Versorgung mit existenziellen Gütern wie Nahrung und Kleidung, dazu kommen ungesunder und unzureichender Wohnraum, kein eigenes Zimmer, kein Rückzugsort für Schularbeiten, wenig vorhandene Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten im Wohnumfeld. Das führt dazu, dass ein Teil der armen Kinder und Jugendlichen in sozialer Isolation aufwächst und zunehmend von Ausgrenzung, von emotionalen und sozialen Problemen betroffen ist.

Warum haben Kinder aus sozial benachteiligten Familien oft verstärkt mit körperlichen und psychischen Krankheiten zu kämpfen?

SIMON-STOLZ Materielle Armut, kulturelle Verarmung, soziale Isolation und fehlende Bildungschancen gehen häufig miteinander einher und verstärken sich gegenseitig. Die Armutsforschung zeigt, dass frühzeitige Sterblichkeit und gesundheitliche Beeinträchtigungen in Gruppen mit niedrigem sozialem Status, Ausbildungsstand und Einkommen in Bezug auf nahezu alle spezifischen Krankheiten und Behinderungen häufiger auftritt als in höheren Statusgruppen. Und das gilt gleichermaßen auch für Kinder. Die gesundheitliche Situation von Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen ist schon bei der Geburt und in der Neugeborenenzeit schlechter. Untergewicht, Frühgeburtlichkeit und Neugeborenen-Infektionen treten bei Kindern armer und sozial benachteiligter Mütter nachweisbar häufiger auf. Im weiteren Lebensverlauf sind es insbesondere auch die chronischen Erkrankungen des Kindesalters wie Asthma bronchiale, Diabetes, Ernährungs- und Bewegungsstörungen und Übergewicht, die deutlich häufiger Kinder und Jugendliche aus niedrigen Statusgruppen betreffen. Damit verbunden sind auch häufigere psychische Erkrankungen, Auffälligkeiten oder Störungen des Sozialverhaltens, Vermeidungstendenzen, riskanter Konsum und letztendlich auch Schulversagen. Dabei geht es nicht nur um die gesundheitliche Belastung per se, sondern auch um den Mangel an Bewältigungsressourcen und Erholungsmöglichkeiten.

Wie erleben Sie die Situation im Saarland? Ist sie in manchen Landkreisen dramatischer?

SIMON-STOLZ Bundesweit ist laut dem 5. Armuts- und Reichtums-Bericht der Bundesregierung von 2017 jedes fünfte Kind betroffen, saarlandweit laut dem 1. Armuts- und Reichtums-Bericht für das Saarland von 2015 jedes vierte Kind. Nach der offiziellen Statistik der Bundesagentur für Arbeit von Ende 2017 gibt es im Saarland bei der SGB-II-Quote der Kinder unter 18 Jahren einen deutlichen regionalen Unterschied. Besonders stark betroffen sind der Regionalverband Saarbrücken (31,8 Prozent) und der Landkreis Neunkirchen (21,4 Prozent). Die geringste Quote hat der Landkreis St. Wendel mit 10,4 Prozent. Erschreckend ist, dass die Quote der Kinder unter drei Jahren noch eins drauflegt (Regionalverband: 31,8 Prozent, Landkreis Neunkirchen: 27,1 Prozent, Landkreis St. Wendel: 13,3 Prozent) und die Quoten insgesamt in den letzten Jahren gestiegen sind.

Was wird bereits von Seiten der Institutionen angeboten?

SIMON-STOLZ Ein fester Bestandteil der Angebote des Gesundheitsamtes sind die flächendeckenden Schuleingangsuntersuchungen, bei denen fast alle Kinder gesehen werden und bei Feststellung von Gesundheits- oder Entwicklungsstörungen notwendige Untersuchungen oder Behandlungen auf den Weg gebracht werden können. Ein weiteres wichtiges Angebot sind – in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe – die Frühen Hilfen, mit denen Familien schon ab der Schwangerschaft erreicht werden können. Das Ziel der frühzeitigen Unterstützung ist die Stärkung der Eltern in ihrer Versorgungs- und Erziehungsverantwortung mit dem Ziel, Entwicklungsbenachteiligungen schon im frühkindlichen Alter zu vermeiden oder zu vermindern. Dabei kann inzwischen – auch über das Säuglings- und Kleinkindalter hinaus – auf ein gut ausgebautes regionales und überregionales Netzwerk von vielen Institutionen und Einrichtungen (ÄrztInnen, medizinische Fachberufe und TherapeutInnen, MitarbeiterInnen von Jugendhilfeeinrichtungen, Beratungsstellen, Kindertagesstätten und sehr viele mehr) gerade auch für sozial benachteiligte Familien zurückgegriffen werden.

Was muss getan werden, um die Situation zu verbessern?

SIMON-STOLZ Generell ist zu sagen, dass man das bestehende Ausmaß der Kinderarmut nicht länger hinnehmen darf. Kinder und Jugendliche stehen unter dem besonderen Schutz von Staat und Gesellschaft. Sie brauchen eine Existenzsicherung, die sich an ihren Bedarfen orientiert. Sie und ihre Eltern benötigen Bewältigungsstrategien, die ihnen jenseits der materiellen Notlage als Ressourcen zur Verfügung stehen: zum Beispiel eine gute Schul- und Berufsausbildung, ausreichende soziale und kulturelle Kompetenzen, eine gute physische und psychische Verfassung, unterstützende soziale Netzwerke und auch das Wissen davon sowie ein gut ausgebautes und kostenfreies Kinderbetreuungssystem.

Wie bewusst ist das Thema in der Politik?

SIMON-STOLZ Es besteht seit Jahren zweifellos weitgehender Konsens darüber, dass es ein ernst zu nehmendes Problem ist und dringender Handlungsbedarf besteht. Ernüchternd ist aber, dass es bisher nicht gelungen ist, die Kinderarmut deutlich zu reduzieren, sondern der Anteil der Kinder und Jugendlichen im SGB II eher angestiegen ist und die Kinder auch länger im Bezug, also arm, bleiben.

 Lieselotte Simon-Stolz

Lieselotte Simon-Stolz

Foto: Landkreis Neunkirchen

„Das Kindergesicht von Armut – Gesundheitsförderung bei sozialer Benachteiligung“ lautet der Titel der Tagung, an der heute unter anderem Mediziner, Psychologen und Wissenschaftler teilnehmen. Veranstaltungsort: big Eppel, Europaplatz 4, 66571 Eppelborn.

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