Unschuldig hinter Gittern Experte zerpflückt Gutachten im Fall des Justizopfers Kuß

683 Tage saß Norbert Kuß nach dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs in Haft – unschuldig. Jetzt geht er gegen die Gerichts-Gutachterin vor.

 Unschuldig saß Norbert Kuß 683 Tage hinter Gittern. Jetzt stellt ein Sachverständiger fest, dass die Gerichtsgutachterin in seinem Fall gravierende Fehler gemacht hat. Foto: Rolf Ruppenthal

Unschuldig saß Norbert Kuß 683 Tage hinter Gittern. Jetzt stellt ein Sachverständiger fest, dass die Gerichtsgutachterin in seinem Fall gravierende Fehler gemacht hat. Foto: Rolf Ruppenthal

Foto: Rolf Ruppenthal

Marpingen/Saarbrücken. Die Geduld von Norbert Kuß (73) wird wieder auf eine harte Probe gestellt. Die Saar-Justiz, deren Opfer der ehemalige Bundeswehrbeamte wurde, nimmt sich in seinem spektakulären Fall erneut viel Zeit. Vor dem vierten Zivilsenat des Oberlandesgerichtes (OLG) ist kein Ende des Berufungsprozesses um Schmerzensgeld, das der Marpinger von einer Gutachterin vom Homburger Institut für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie fordert, in Sicht. Das Verfahren läuft bereits seit etwa 18 Monaten. Zwischenzeitlich wurde die beklagte Sachverständige zur "außerplanmäßigen Professorin" ernannt.

Rückblende: Am 24. Mai 2004 wurde der Familienvater von einer Strafkammer des Landgerichts wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs seiner damaligen Pflegetochter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Richter glaubten der Gerichtsgutachterin, die Aussagen der Pflegetochter als "erlebnisorientiert" und glaubhaft eingestuft hatte. Exakt 683 Tage saß Kuß, der seine Unschuld stets beteuerte, in Haft. Unschuldig. Seine Familie stand wiederholt vor dem Ruin. Nach jahrelangem Kampf, Wiederaufnahmeverfahren durch alle Instanzen und neuen, entlastenden Gutachten wurde das Urteil aufgehoben. Seit 2013 hat Justizopfer Kuß, bei dem sich die damalige Justizministerin für Bummelei und Schlamperei in den Verfahrensabläufen entschuldigt hatte, einen "Freispruch erster Klasse" in der Tasche. Er ist voll rehabilitiert und will jetzt die Homburger Gutachterin wegen grober Fahrlässigkeit zur Rechenschaft ziehen.

Die erste Instanz in dem Zivilstreit haben Kuß und seine Saarbrücker Rechtsanwältin Daniela Lordt bereits Ende Januar 2015 gewonnen. Das Landgericht sprach Kläger Kuß 50 000 Euro Schmerzensgeld zu und bestätigte Schadensersatzansprüche.

Justizopfer Kuß hat seine eigenen Erfahrungen mit Bummelei bei der Justiz. Im Zusammenhang mit dem aktuellen Rechtsstreit vor dem OLG will er davon aber noch nicht sprechen. Einige seiner Wegbegleiter wundern sich aber schon über immer wieder neue Fristverlängerungen und "taktische Manöver". So hat Rechtsanwalt Stephan Krempel, der die Gutachterin vertritt, beispielsweise vor Monaten einen möglichen Vergleich in dem Rechtsstreit angedeutet, aber selbst noch kein konkretes Angebot gemacht.

Die Karten in dem Berufungsprozess stehen für Krempels Mandantin offenbar nicht gut. Der OLG-Senat hat per Beweisbeschluss den Top-Glaubhaftigkeitsexperten Professor Dr. Max Steller vom Institut für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité mit einem "Obergutachten" beauftragt. Steller war bei der erneuten Befragung der Ex-Pflegetochter (heute 28) durch das Gericht im November letzten Jahres dabei. Kuß musste während dieser Vernehmung - angeblich aus Gründen des Zeugen- und Opferschutzes - vor die Tür.

Stellers Aufgabe war und ist es, zu untersuchen und zu begründen, ob die Homburger Sachverständige 2003/2004 gravierende Fehler gemacht hat. Er lieferte sein Gutachten, das 79 Seiten umfasst, pünktlich vor Weihnachten 2016 ab. Nach Informationen unserer Zeitung spart der Experte nicht mit Kritik an der erheblich fehlerhaften Arbeit seiner Homburger Kollegin. So sollen weder Ton- noch Videoaufzeichnungen ihrer Gespräche mit der Pflegetochter vorliegen. Wissenschaftliche Grundsätze für Glaubhaftigkeitsgutachten seien in höchstem Maße verletzt worden, schreibt der Experte. Vom Strafsenat des Bundesgerichtshofes 1999 festgelegte Mindestanforderungen an solche Gutachten seien nicht erfüllt.

Der vierte Saarbrücker OLG-Senat orderte im März ein Ergänzungsgutachten bei Steller. Der legte, wie es in Justizkreisen heißt, auf 30 Seiten deutlich nach, listet erhebliche Fehler der Homburger Gutachterin auf. Es sei nicht nachvollziehbar, wie sie überhaupt zu ihrer Feststellung kam, die belastenden Aussagen der damaligen Pflegetochter seien mit "hoher Wahrscheinlichkeit" glaubhaft. Eine solche Feststellung sei auch zu keinem Zeitpunkt berechtigt gewesen.

Steller nimmt zu der Frage Stellung, ob das Gutachten der Homburger Gerichtspsychiaterin "grob fahrlässig falsch" erstellt wurde. Er stellt nach SZ-Informationen fest: Die häufige Verletzung grundlegender methodischer Prinzipien bei der Erfüllung eines Sachverständigen-Auftrags verantworte der, der sich zum Sachverständigen ernennen lässt.

Die angeblich vielbeschäftigte Homburger Gutachterin braucht offenbar Zeit, um diese eindeutige Beurteilung ihrer Arbeit aus den Jahren 2003/2004 zu verdauen. Ihr Anwalt hat beim Oberlandesgericht auf den vollen Terminkalender hingewiesen und erneut um Fristverlängerung gebeten, um zu dem Ergänzungsgutachten Stellung zu nehmen. Justizopfer Kuß benötigt keine weitere Bedenkzeit. Der Mann, der im Juli 74 Jahre alt wird, und seine Ehefrau Rita üben sich in Zuversicht, dass bald ein Urteil fällt: "Wir vertrauen den Richtern und unserer Anwältin."

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