Kinder suchtkranker Eltern Endlich Hilfe für die „vergessenen Kinder“

Saarbrücken · Das Sozialministerium plant vier weitere Anlaufstellen für Kinder suchtkranker oder psychisch kranker Eltern. Im Regionalverband entsteht die erste.

 Rund fünf Millionen Erwachsene in Deutschland gelten als suchtkrank, über die Hälfte leben mit Kindern zusammen.

Rund fünf Millionen Erwachsene in Deutschland gelten als suchtkrank, über die Hälfte leben mit Kindern zusammen.

Foto: Getty Images/ iStockphoto/Zinkevych

„Ich bin der Sicherheitsmann bei uns“, so schildert der neunjährige Sebastian (Name von Red. geändert) seine Aufgabe zuhause. Seine Mutter, die ihn allein erzieht, ist derzeit trocken, doch der Junge macht sich immer noch wahnsinnige Sorgen um sie, durchsucht die Wohnung, wacht über ihr Kommen und Gehen. Als sie noch trank, hatte Sebastian den Einkauf und den Haushalt am Hals, funktionierte prächtig als Kümmerer, während ihn täglich eine grausame Angst quälte – vor der Unberechenbarkeit seiner Mutter, die sich unter Alkoholeinfluss in eine Furie verwandelte oder unansprechbar war.

Sebastian gehörte, bis er zu Wiesel kam, der Neunkircher Anlaufstelle für Kinder suchtkranker Eltern, zu den sogenannten vergessenen Kindern. Denn das Gesundheitssystem kümmert sich zwar um die kranken Eltern, doch die Jugendämter werden darüber nicht informiert, kennen diese Kinder also oft nicht, Kinder von Problemeltern. Rund fünf Millionen Erwachsene in Deutschland gelten als suchtkrank (Alkohol, illegale Drogen, Medikamente, Glücksspiel), über die Hälfte leben mit Kindern zusammen. Hinzu kommen etwa 3,8 Millionen Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil eine psychische Erkrankung hat. Für das Saarland liegen dazu keine Zahlen vor, schätzungsweise sind über 70 000 Kinder betroffen. Davon, „vergessen“ zu werden.

Was sich fatal auswirkt, denn Kinder von suchtkranken oder psychisch erkrankten Eltern gelten als Hochrisikogruppe für Suchtverhalten und psychische Störungen. Experten nennen eine Quote von 30 bis 60 Prozent; nicht von ungefähr hat sich bereits der Deutsche Ärztetag zum Thema geäußert. Er riet den Ärzten 2017 nachdrücklich zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern ihrer Patienten. Für letztere wird in zwei Landkreisen im Saarland bereits gesorgt, für die Kreise Neunkirchen und St. Wendel wurden in der Trägerschaft der Caritas und mit finanzieller Unterstützung des Sozialministeriums (jährlich 24 155 Euro) vor Jahren bereits die Anlaufstellen Oase für Kinder psychisch kranker Eltern und Wiesel für Kinder suchtkranker Eltern installiert. Doch seit Anfang des Jahres drängt der Kinderschutzbund Saar stärker als je auf eine flächendeckende Versorgung, brachte unter anderem mit einer Fachtagung „Kinder in Not“ das Thema in die Öffentlichkeit. Vom Sozialministerium kam dann auch die Zusage, sich an einer flächendeckenden Ausweitung zu beteiligen. Der Kinderschutzbund hält eine ortsnahe Versorgung für zwingend, weil Mobilität bei den betroffenen Familien ein Problem darstelle.

Er prescht jetzt mit einer konkreten Eigen-Initiative im Regionalverband vor. Wie der Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Stefan Behr, der SZ berichtet, wird im Regionalverband die nächste Anlaufstelle eingerichtet, der Kinderschutzbund-Ortsverband Saarbrücken habe sich als Träger und Mitfinanzier angeboten. Gespräche mit dem Regionalverband liefen, der eine finanzielle Unterstützung zugesichert habe. Dies bestätigt der Pressesprecher des Regionalverbandes Lars Weber. Er schließt jedoch eine Umsetzung noch in diesem Jahr aus. Man werde Geld in den Haushalt 2020 einstellen. Wie viel, sei offen, ebenso Konzept und Trägerschaft. Das saarländische Sozialministerium, das auf SZ-Nachfrage seine Unterstützung für eine Ausweitung auf alle Landkreise bekräftigt, hält fest, in die Planungen nicht eingebunden zu sein. Langfristig jedoch seien im Saarland sechs bis sieben Anlaufstellen nach dem Modell Oase/Wiesel geplant.

Wie läuft es dort? Laut Corinna Oswald werden bei Wiesel rund 20 Kinder betreut. Da Wiesel zusammen mit der Suchtberatungsstelle „Die Brigg“ im selben Gebäude untergebracht sei und eng kooperiere, sei es leicht, die gefährdeten Kinder zu identifizieren, sagt Oswald. Das Ziel? Aufklärung leisten, Einsicht fördern und die Widerstandskraft gegen die Gefährdung. Der Weg dorthin: Gespräche, Freizeitaktivitäten, Gruppen-Arbeit, im Fachjargon Psychoedukation.

„Es geht um Begleitung, nicht um Psychotherapie“, sagt Oswald, die sich bei Wiesel mit einer Kollegin eine Stelle teilt. „Wir wollen die Kinder stark machen, sie sollen ihre schwierige Lebenssituation besser verstehen und erkennen, dass sie sie nicht verursacht haben und dass sie sie nicht heilen können.“ Denn genau Letzteres belaste und quäle die Kinder, sie reagierten mit Rückzug, Ess-Störungen, Drogenkonsum – oder wie Sebastian mit Überfunktionieren. „Der Druck muss weg von den Kindern“, so der Kinderschutzbund-Vorsitzende Stefan Behr, von Beruf Sozialarbeiter. Deshalb mache sein Verband nun der Politik Druck.

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