Einen Bleistift, aber keinen Respekt vor Literatur

Paolo Ruffini ist 1765 geboren und 1822 gestorben. Diese Information habe ich von einem Menschen, von dem ich nur drei Dinge weiß: Er hat einen Bleistift, eine lesbare Handschrift und keine Skrupel, in Bücher zu kritzeln, die ihm nicht gehören. Dieser Mensch hat, auch das weiß ich, "Roderers Eröffnung" gelesen. Das ist ein Roman des Argentiniers Guillermo Martinez

Paolo Ruffini ist 1765 geboren und 1822 gestorben. Diese Information habe ich von einem Menschen, von dem ich nur drei Dinge weiß: Er hat einen Bleistift, eine lesbare Handschrift und keine Skrupel, in Bücher zu kritzeln, die ihm nicht gehören. Dieser Mensch hat, auch das weiß ich, "Roderers Eröffnung" gelesen. Das ist ein Roman des Argentiniers Guillermo Martinez. Und der Mensch mit dem Bleistift hat dieses Buch wie ich in der Stadtbibliothek ausgeliehen. Bevor er es zurückgegeben hat, hielt er es allerdings für notwendig, den Roman zu ergänzen und die Übersetzung zu korrigieren. Den Satz "Trotz der Dunkelheit machte ich eine Gestalt aus", verbesserte der Leser - oder die Leserin - mit dem Bleistift zum Beispiel in: "Trotz der Dunkelheit nahm ich eine Gestalt wahr." Es gibt einige solcher Korrekturen in diesem Buch. Und eben auch zum Namen Ruffini den ins Buch geschriebenen Hinweis: "1765 - 1822". Ist es eine schwierige Kindheit, die Menschen zu so etwas treibt, eine göttliche Mission oder einfach nur Besserwisserei? Kann man so etwas ärztlich behandeln? Die Stadtbibliothek würde womöglich die Pillen bezahlen. Denn durch Menschen, die zum Lesen einen Stift brauchen, werden nicht wenige Bücher beschädigt und verunstaltet. Wobei zarte Bleistiftkritzeleien noch harmlos sind. Es gibt Menschen, die heben Textstellen in Bibliotheksbüchern mit Textmarkern hervor - in drei Farben. Noch schlimmer sind eigentlich nur noch diejenigen, die nichts in die Bücher reintun, sondern etwas daraus stehlen. Bilder zum Beispiel. Selbst aus Bildbänden, die die Bibliothek nicht verlassen, schneiden Leute in unbeobachteten Momenten Bilder aus und nehmen sie mit nach Hause. Aber zurück zum diesem Menschen, der zwar einen Bleistift, aber weder Respekt vor Literatur, noch vor fremdem Eigentum zu haben scheint. Ob er wohl weiß, dass der Mathematiker Ruffini offenbar 1799 als erster die Vermutung ausgesprochen hat, "dass allgemeine Polynome vom Grad größer vier nicht in Radikale auflösbar sind"? Wenn ja, dann soll er es sich bitte für sich behalten, denn es wissen ja nun alle. Sie haben Tipps, erleben im Alltag unglaubliche Dinge oder wollen dem Autor Ihre Meinung sagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an m.rolshausen@sz-sb.de

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