Eine jüdische Kindheit in Einöd

Einöd/Paris/Zweibrücken. Seine Geschichte ist ganz weit entfernt - und doch so nah, unwirklich und doch real. Für Gérard Koch, der Kosch ausgesprochen wird, heißt dies "Zeit des Wahnsinns", Entkommen", "Fliehen", "Überleben". Der 85-jährige französische Künstler, der im Viertel Montparnasse in Paris arbeitet und lebt, spricht ruhig

 Gérard Koch heute ein französischer Künstler, hier von seinen "Sequences Blanches", hat saarpfälzische Wurzeln. Foto: Marx/Neumann

Gérard Koch heute ein französischer Künstler, hier von seinen "Sequences Blanches", hat saarpfälzische Wurzeln. Foto: Marx/Neumann

Einöd/Paris/Zweibrücken. Seine Geschichte ist ganz weit entfernt - und doch so nah, unwirklich und doch real. Für Gérard Koch, der Kosch ausgesprochen wird, heißt dies "Zeit des Wahnsinns", Entkommen", "Fliehen", "Überleben". Der 85-jährige französische Künstler, der im Viertel Montparnasse in Paris arbeitet und lebt, spricht ruhig. Mit uns spricht er nicht Französisch. Er spricht Deutsch, die Sprache seiner Eltern und seiner Heimat. Seine Blicke gleiten ins Weite, in die Zeit seiner Kindheit, die in Schrecken endete.Er läuft von der Bubenhausener über die Ernstweiler und Homburger Straße in die heutige Hauptstraße nach Einöd. Er spielt in den Wiesen zwischen dem heutigen John-Deere-Gelände und dem Einöder Bahnhof am Schwarzbach. Er spielt auf den Straßen, Autos gab es fast noch keine. Er freut sich am Leben eines kleinen Buben, eines jüdischen Jungen.

In Einöd können sich Zeitzeugen wie Elfried Hock, geborene Ambos, Helmut Ehrmanntraut und seine Frau Waltraut, geborene Pick, oder Willi Fess zwar nicht genau an den kleinen Jungen erinnern. Doch dass die heutige Hauptstraße ganz anders aussah als heute, ist klar. Dort gab es neben der früheren Praxis von Dr. Schuberth, neben der Bäckerei Emser und bis zu Elektro Zenker andere Gebäudeaufteilungen. Helmut Ehrmanntraut grenzt dies noch mehr ein: "Neben dem Eingang zum Bäckereihof ist heute noch ein Mauerrest zu sehen, ein Gebäudeteil." Friedlinde Geisel, geborene Pirmann, ortet die Kochsche Filiale "in einem Hintergebäude am alten Bahnhof".

In Zweibrücken nehmen 1999 der in Mimbach aufgewachsenen Künstler Manfred Marx, der lange in Einöd gelebt hat, und Michael Staudt, Ex-Leiter der VHS Zweibrücken, Kontakt zu Koch auf. Sie arbeiten an dem VHS-Projekt "Zweibrücken unter dem Hakenkreuz. Stationen jüdischen Lebens".

Es entsteht ein beachtenswertes Buch und eine Ausstellung mit dem Titel "Lebenswelten. Rückkehr in die Stadt der Kindheit. Gérard Koch". Und: Koch kommt für einige Tage zurück.

Wieder in Paris im Jahr 2011: Koch spricht leise in seinem Atelier, manchmal spricht er ohne Worte, nur seine Blicke lassen die Erinnerungen an frühere Zeiten in Einöd und Ernstweiler erahnen. Seine Frau Thérése Françoise kommt durch die kleine Tür ins Atelier. Sie lächelt verständnisvoll. Sie weiß, dass ihr Mann fast noch nie über diese Zeiten gesprochen hat oder spricht. "Das ist für ihn Überwindung der Geschichte, ohne zu vergessen, aber ohne Rachegefühle," sagt sie über ihn.

"Das Leben von Gérard Koch beginnt eigentlich erst im Alter von zwölf Jahren, 1938 in Frankreich. Auf den Jahren davor lastete zunehmend ein zentnerschwerer Bleideckel. Erst allmählich ließ Koch es zu, dass er gelüftet wurde und nach und nach die Erinnerungen aus seiner Kindheit entweichen konnten", heißt es in einem Katalog zur Ausstellung.

Koch, der viele internationale Preise, darunter von der Académie des Beaux Arts oder von der Ford Foundation bekam, sagt über seine Arbeit als Künstler, Bildhauer oder Modellierer: "Das Gedächtnis aufräumen, einen Gedanken einordnen: die Idee sich entwickeln lassen, sich wiederholen lassen, ruhen lassen, um einen Rhythmus wiederzufinden. Sie zerlegen, einebnen, um sie geduldig wieder aufzubauen. Element für Element, Note für Note, sie zusammenfügen zu einer anderen Sequenz, einer konstanten Chronologie der Vergangenheit und der zukünftigen Entwicklung." Koch nennt dies "mentales Ordnen".

Zurück in der Saarpfalz: Der Künstler Manfred Marx, der regelmäßig mit Koch zusammenarbeitet, sagt: "Es war an einem Samstagnachmittag im September 1999, als ich in der Ausstellung "Lebenswelten" Aufsicht führte. Ich war insbesondere von den "Sequences Blanches" fasziniert, diesen weißen Stellflächen, die zu Gruppen zusammengestellt waren und sich gegenseitig zu stützen schienen, um nicht umzufallen. Gérards Kunst wurde so zum Schlüsselerlebnis für mich, ich bildete die "Sequences Blanches" an jenem Tag mit meiner Kamera ab und sie öffneten mir dabei den Zugang zur plastischen Kunst und ihrer Vielschichtigkeit. Es wurde mir klar, dass ein erster Blick nie genügt."

Ende diesen Jahres will Gérard Koch noch einmal zurückkehren - zunächst nach Mainz, dann in die Saarpfalz. "Das Gedächtnis aufräumen, einen Gedanken einordnen."

Gérard Koch

Hintergrund

Gérard Koch wird am 10. März 1926 als zweites Kind des jüdischen Getreidehändlers Eugen Koch und seiner Frau Amalie, geb. Eskeles, in Landstuhl geboren. Sein Vater stirbt mit 44 Jahren am 24. Dezember 1930. Mutter Amalie zieht mit ihren Kindern Inge und Günter zu ihren Eltern nach Zweibrücken. Sein Großvater Hermann Eskeles lebte dort mit seiner protestantischen Frau Katharina Simon. Hier hatte er eine Öl- und Fettwarenfabrik mit einer Filiale in Einöd. Das Jahr 1935 brachte mit dem Anschluss des Saargebiets an Nazi-Deutschland den Bruch. Nach der "Reichskristallnacht" 1938 wollte Kochs Mutter ihren Sohn retten. Ein Rothschild-Transport brachte ihn nach Straßburg. Dort adoptierte ihn der Chemieprofessor Hammel, der dann nach Nizza zog. Nach dem Krieg ging Koch in einen Kibbuz nach Israel. Von dort kehrte er 1950 nach Paris zurück. jkn

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort