Einblicke in die Anstalt

„Die Halbruhigen“ hat die gebürtige Merzigerin Simone Regina Adams ihren zweiten Roman genannt. In dem Werk verarbeitet sie auch ihre Erfahrungen aus ihrer Kindheit. Sie wuchs auf dem Gelände der damaligen Landesnervenklinik auf. Am 13. Juni stellt sie ihr Buch in der Kreisstadt vor. SZ-Redakteurin Margit Stark verriet die Psychotherapeutin, wie sie zum Schreiben kam.

Was gab den Ausschlag, den Roman über das Leben in einer Anstalt zu schreiben?

Simone Regina Adams: Idealerweise eröffnet uns ja jeder Roman eine neue Welt. In meinem Fall lag es nahe, auch einmal über die Welt der "Anstalt", wie man sie damals nannte, zu schreiben. Ich bin praktisch auf dem Gelände der Merziger Klinik groß geworden, weil meine Eltern dort arbeiteten. Und das bedeutete für mich und meine Geschwister von klein auf einen täglichen, alltäglichen Umgang mit psychisch Kranken zu haben. Das so genannte "Verrückte" war für uns also völlig normal. So wie für Edith, die Hauptfigur im Roman.

Welches Gefühl beschlich Sie als Kind, stets von psychisch Kranken umgeben zu sein?

Adams: Damals war die Verweildauer in den Kliniken viel länger als heute, die Patienten lebten zum Teil über Jahre in der Klinik. Sie arbeiteten dort auch, in der Großküche, in der Wäscherei, in der Gärtnerei oder in der Schreinerei, der Schlosserei nahezu jedes Handwerk war vertreten. Und wir Kinder strolchten überall herum. Für uns war das alles sehr spannend, also nicht nur die Menschen, die uns umgaben, sondern das gesamte System der Klinik.

Empfanden Sie so manches Verhalten von bestimmt nicht immer einfachen Patienten auch schon mal als Bedrohung?

Adams: Eigentlich nicht. Letztlich passierte in der Klinik, zumindest auf den offenen Stationen, wenig wirklich Gefährliches. Es gab eine ständige soziale Kontrolle, dadurch, dass überall Personal zugegen war. Mir war wichtig, das auch im Roman aufzuzeigen: Vor allem Ada, die Frau des Chefarztes, lebt in der Angst, die Kinder könnten zum Beispiel von pädophilen Patienten bedrängt werden oder Psychopharmaka schlucken, die manche Patienten heimlich aus dem Fenster warfen, wenn sie sie nicht nehmen wollten. Diese latente Bedrohung ist für Ada immer da, aber Edith, ihre Tochter, hat später das Gefühl, in einer Idylle gelebt zu haben.

Was empfinden Sie heute im Nachhinein?

Adams: Heute finde ich es faszinierend, dass man als Kind einfach alles als gegeben hinnimmt. Wer nun als Patient in der Klinik lebte, wer als Arzt, Pfleger oder Besucher - für uns war das nicht wichtig. Patienten, die im Klinikgelände unterwegs waren, verhielten sich meist nicht besonders auffällig. Und Behinderte, die ja auch dort lebten, erschienen uns nie als bedrohlich.

Wann wurde Ihnen klar, dass die Umgebung Ihrer Kindheit doch etwas ungewöhnlich war?

Adams: Erstaunlich spät. Als literarisches Thema habe ich es erst entdeckt, nachdem der erste Roman bereits veröffentlicht war. Ich saß mit Freunden bei einem Glas Wein, erzählte von kleinen Begebenheiten meiner Kindheit, zum Beispiel von den Dramen im Schulbus, wenn wir Kinder gehänselt wurden, weil wir an der "Anstalt", bei den "Bekloppten", wie es hieß, aussteigen mussten, und erst durch die Nachfragen in diesem Gespräch wurde mir so richtig bewusst, dass das damals doch eine sehr besondere Situation war. Und auch, dass es diese Landeskrankenhäuser - also psychiatrische Großkliniken wie früher in Merzig - seit der so genannten "Psychiatriereform" nicht mehr gibt. Daraus entstand dann die Idee, darüber einmal zu schreiben.

Wie kamen sie auf die Idee, Ihrem Roman den Titel "Die Halbruhigen" zu geben?

Adams: Über diesen Titel wurde im Verlag sehr diskutiert. Ein Titel, der nicht sofort verständlich ist, birgt ja immer auch ein gewisses Risiko. Man könnte diesen Begriff für einen Neologismus, für eine literarisch ambitionierte Wortschöpfung halten. Tatsächlich aber ist es ein alter psychiatrischer Begriff, der sich dann im Roman auch gleich auf der ersten Seite erklärt.

Was sind Halbruhige?

Adams: Patienten wurden bereits im 19. Jahrhundert unterteilt in Ruhige, Halbruhige und Tobsüchtige, manchmal auch in Reinliche und Unreinliche - man sieht, das hierbei die Umgänglichkeit der Patienten und der Pflegeaufwand im Vordergrund stand, und nicht etwa das individuelle Leiden oder das Krankheitsbild.

Gab es noch weitere Unterteilungen von psychisch Kranken?

Adams: Es gab verschiedene Verpflegungsklassen, je nach sozialem Status und damit auch der Zahlungsfähigkeit wurde man zum Privat- oder zum Saalpatienten. Und natürlich wurden Männer und Frauen in getrennten Stationen untergebracht.

Worin lag der Unterschied?

Adams: Die Saalpatienten hatten keinerlei Intimsphäre. Auch das wird im Roman thematisiert: dass die Patienten, die auch in den 1970ern noch in Schlafsälen untergebracht wurden, keinen Raum für sich, auch nicht für ihr Intimleben hatten. Aber vielleicht noch einmal zu den Halbruhigen - dieser Begriff steht für mich auch für die Atmosphäre im Roman, es ist insofern ein programmatischer Titel. In den 1970er Jahren wurden die Psychopharmaka noch sehr hoch dosiert, es wurde unglaublich viel geraucht, auf den Stationen lief ständig der Fernseher - es gab sehr viel Leerlauf, Monotonie, massiv gedämpfte Emotionen. Und das ist im Roman nicht nur bei den Patienten der Fall, sondern auch bei den Menschen, die in der Klinik arbeiten. Eigentlich träumt jeder in diesem System davon, einmal auszubrechen, auch - vielleicht sogar besonders - der Chefarzt, Professor Neumann.

Wie viel Erinnerungen an die Kindheit spielen mit, wie viel Erfahrung aus Ihrer Tätigkeit als Psychologin?

Adams: Das ist wohl kaum zu trennen. Aber wenn ich im Roman zum Beispiel einen Patienten aus der Perspektive der Kinder beschreibe, dann habe ich natürlich die Diagnostik im Hinterkopf, auch wenn diese nicht explizit benannt wird.

Warum verwendet der Vater den Begriff "alte Dame" für die psychiatrische Klinik?

Adams: Darin zeigt sich seine Ambivalenz ihr gegenüber. Das System war ja eigentlich ein paternalistisches, so wie der Staat damals eher paternalistisch war, aber Professor Neumann, der Chefarzt im Roman, erlebt die Klinik eher wie eine überfürsorgliche, alles erdrückende Mutter. Vielleicht ist die "alte Dame" auch eine Persönlichkeit, deren beste Zeiten schon vorbei sind. Zu dieser Zeit war ja schon zu ahnen, dass sich die Großklinik im alten Stil nicht würde halten können.

Was hat Sie veranlasst, Ihren Beruf als Psychotherapeutin aufzugeben und sich ganz der Schriftstellerei zu widmen?Warum wollten Sie nicht zweigleisig fahren: Psychotherapeutin und Schriftstellerin?

Adams: Die Psychotherapie lebt von der Vorstellung, eine Ordnung ins Leben bringen zu können. Ohne diese Hoffnung würden wir die Mühen einer Therapie gar nicht auf uns nehmen. Das ist in der Literatur völlig anders. Dürrenmatt sagte einmal sinngemäß: Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. In der Therapie dagegen versucht man natürlich, die bestmögliche Wendung zu erreichen. Diese beiden Haltungen sind so grundverschieden, dass ich nicht über Jahre hinweg in diesem Spagat leben wollte.

Für Ihren Debütroman Nashornvögel wie auch für Ihren Roman "Die Halbruhigen" haben Sie Stipendien des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg erhalten. Haben Sie dies als Zeichen gewertet, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben?

Adams: Natürlich war das eine ganz große Hilfe. Als Schriftsteller arbeitet man lange ohne direkte Rückmeldung, das Schreiben ist oft ein einziger, langer Belohnungsaufschub. Da ist ein Stipendium eine ganz wichtige Motivationshilfe. Ich wusste, es gibt Menschen, die wollen, dass ich diesen Roman zu Ende bringe, und die diese Arbeit deshalb mit einem Stipendium fördern. Das hilft schon sehr.

Was bedeutet für Sie der Werner-Bräunig-Preis, den Sie für den Roman "Die Halbruhigen" erhalten haben?

Adams: Auch der Werner-Bräunig-Preis wurde ja für das noch unveröffentlichte Manuskript vergeben und war gleichzeitig der nächste Schritt zur Veröffentlichung. Und Werner Bräunig selbst ist ein Autor, den ich dadurch erst für mich entdeckt habe.

Gibt es Pläne für einen weiteren Roman?

Adams: Diese Pläne entstehen eigentlich von ganz alleine. Ein Romanprojekt ist für mich wie ein selbst gezimmertes Boot, mit dem ich für vielleicht ein, zwei Jahre durch die Welt segeln kann. Die Zeit, bis das neue Projekt steht, ist dann ein Suchprozess, und ich bin immer froh, wenn ich wieder mitten im nächsten Roman gelandet bin.

www.simonereginaadams.de

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Auf einen BlickSimone Regina Adams,geboren 1967 in Merzig, lebt jetzt in Freiburg im Breisgau. Nach dem Psychologiestudium arbeitete sie fünfzehn Jahre als Psychotherapeutin in eigener Praxis, bevor sie sich entschied, noch einmal zu studieren - Literaturwissenschaft, und haupt-beruflich als Autorin zu arbeiten. Am Donnerstag, 13. Juni, ab 19.30 Uhr stellt sie ihren Roman Die Halbruhigen in der Stadtbibliothek in der Merziger Hochwaldstraße 47 vor. mst

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