Ein Bahnhof erwacht aus dem Dornröschenschlaf

Wer mit dem Zug aus Richtung Trier oder Saarbrücken anreist und am Haltepunkt Beckingen aussteigt, steht irgendwo im Nirgendwo. Ein schmuckloser Haltepunkt, der nur zwei Funktionen dient: einsteigen und aussteigen. Ein langer Steg aus Beton und Gehwegsteinen. An einem der zwei Wartehäuschen hat irgendjemand die Scheiben herausgeschlagen

 Stationshaus für Beckingen: Der Entwurf der Abteilung Eisenbahn im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten von 1858 lag jahrelang im Archiv der Eisenbahndirektion. Foto: Landesdenkmalamt

Stationshaus für Beckingen: Der Entwurf der Abteilung Eisenbahn im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten von 1858 lag jahrelang im Archiv der Eisenbahndirektion. Foto: Landesdenkmalamt

 Der Bahnhof mit Uhrenturm um das Jahr 1900. Foto: Gemeinde

Der Bahnhof mit Uhrenturm um das Jahr 1900. Foto: Gemeinde

 Der Bahnhof im Jahre 1997. Foto: Jenal

Der Bahnhof im Jahre 1997. Foto: Jenal

 Turmbau zu Beckingen: während der Restaurierung 2010. Foto: fab

Turmbau zu Beckingen: während der Restaurierung 2010. Foto: fab

 Stationshaus für Beckingen: Der Entwurf der Abteilung Eisenbahn im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten von 1858 lag jahrelang im Archiv der Eisenbahndirektion. Foto: Landesdenkmalamt

Stationshaus für Beckingen: Der Entwurf der Abteilung Eisenbahn im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten von 1858 lag jahrelang im Archiv der Eisenbahndirektion. Foto: Landesdenkmalamt

 Der Bahnhof mit Uhrenturm um das Jahr 1900 Foto: Gemeinde

Der Bahnhof mit Uhrenturm um das Jahr 1900 Foto: Gemeinde

 Der Bahnhof im Jahre 1997 Foto: Jenal

Der Bahnhof im Jahre 1997 Foto: Jenal

 Turmbau zu Beckingen: während der Restaurierung 2010 Foto: fab

Turmbau zu Beckingen: während der Restaurierung 2010 Foto: fab

Wer mit dem Zug aus Richtung Trier oder Saarbrücken anreist und am Haltepunkt Beckingen aussteigt, steht irgendwo im Nirgendwo. Ein schmuckloser Haltepunkt, der nur zwei Funktionen dient: einsteigen und aussteigen. Ein langer Steg aus Beton und Gehwegsteinen. An einem der zwei Wartehäuschen hat irgendjemand die Scheiben herausgeschlagen. Tristesse auch auf der anderen Bahnsteigseite: Wildwuchs an einer alten Güterhalle, daneben liegen rostbraune Stahlrollen. Der Beckinger Bahnhof leidet wie viele seiner Art im ländlichen Raum an seiner preisgünstigen Funktionalität und am Vandalismus gelangweilter Zeitgenossen. Ein paar Schritte entfernt liegt ein unscheinbarer Bau. Gerüste stehen an den Wänden, das Gelände ist von einem Bauzaun umgeben. Der Zahn der Zeit hat seine Spuren an dem Gebäude hinterlassen. Die Außenwände sind verwittert, in der Fassade klaffen Löcher. "31,90 Km. Saarbr." steht in kaum noch lesbarer Schrift an der Fassade, halb verdeckt durch die alte Überdachung am ehemaligen Bahnsteig, die dort an das Mauerwerk stößt. Das ist der alte Beckinger Bahnhof. Dieses historische Gebäude ist eine Rarität. Der Bahnhof war einer der ersten an der 1860 fertig gestellten Bahnstrecke zwischen Trier und Saarbrücken und galt lange als einer der schönsten. Heute ist er runtergekommen. Das soll nach dem Willen der Gemeinde Beckingen anders werden. Seit September 2009 wird das Gebäude restauriert. Die Gemeinde und das Land haben viel Geld in die Hand genommen, um dem Bau seinen historischen Glanz zurückzugeben: 1,58 Millionen Euro sollen investiert werden: 938 085 Euro erhält Beckingen davon an Zuschüssen. Historische Baupläne und Fotos des Bahnhofes zeigen, wie imposant der Bau einmal war. Der Außenbau war wie eine mittelalterliche Burg angelegt. Ein zwanzig Meter hoher Uhrenturm mit hohem Sockel, Schießschartenfenstern und Zinnenkranz thronte über dem damals noch quadratischen Gebäude. Erbaut wurde der Bahnhof im Jahr 1858. Danach wurde das Gebäude mehrmals erweitert, wurden Teile vernichtet. Große Zerstörungen verursachten die Alliierten, die 1944 den Turm zum Einsturz brachten. Noch heute zeugen Granatsplittereinschläge von den Kriegstagen. Die Geschichte des Bahnhofes ist eng mit der saarländischen Industrialisierung verbunden. Triebkraft der explosionsartigen Entwicklung in der Stahl- und Kohleindustrie war die Fertigstellung der Bahnstrecke von Trier nach Saarbrücken. Unklar ist aber, warum sich ein kleiner Ort wie Beckingen - das, wie der Zeitzeuge Matthias Schneider in der Merziger Volkszeitung von 1924 schrieb, 1860 ein "altdörfliches Aussehen" besaß - solch ein imposantes Gebäude vor die Haustür stellte. Die Schraubenfabrik Karcher als mögliche wirtschaftspolitische Erklärung fällt weg. Sie wurde erst knapp zehn Jahre später gegründet. Bekannte Quellen geben diesbezüglich keine eindeutige Antwort. In einem Artikel in der Saarbrücker Zeitung von 1975 wird die strategische Bedeutung als Anlass der Erbauung mit Turm genannt. Damals hätte vor dem Krieg 1870/71 noch die "Erbfeindschaft" mit Frankreich bestanden. Vom Turm des Bahnhofes habe man das ganze Saartal bis zur Niedmündung übersehen können, schreibt der Autor. Eine Brücke über die Saar gab es damals hier noch nicht. Der Bahnhof in Beckingen stand also genau gegenüber der Rehlinger Furt, wo am 14. Januar 1814 das York'sche Korps die Saar überquerte. Die Gemeinde Beckingen glaubt, die Gründe für die Form des Bahnhofes in der besonderen Vorliebe des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. für Architektur und Kunst zu finden. Volkmar Schommer, Mitarbeiter in der Stabstelle "Zentrale Steuerung" im Beckinger Rathaus und Mitautor des heimatkundlichen Buches "Beckingen im Wandel der Zeit" glaubt, dass eben jener Preußenkönig entscheidenden Einfluss auf das Aussehen des Gebäudes gehabt habe: "Friedrich Wilhelm, den man auch den 'Romantiker' auf dem Hohenzollernthron bezeichnet hat, hatte schon als preußischer Kronprinz 1833 die Saargegend bereist und ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Auf ihn gehen der Bau von Klause und Grabkapelle für den blinden König bei Kastel und die Instandsetzung der Burg Montclair zurück." Dass der König direkten Einfluss auf die Gestaltung des Beckinger Bahnhofs genommen hat, sei also keineswegs abwegig, sagt Schommer. Eine dritte These wird von einer Magisterarbeit aus dem Jahre 1994 aufgeworfen. Barbara Neu hatte in ihrer Arbeit die Architektur der saarländischen Bahnhöfe untersucht. Sie konnte beim Beckinger Bahnhof viele Einflüsse aus der englischen Spätgotik erkennen, den sogenannten Tudorstil. So blieben zwar mittelalterliche Burgen im Bahnhofsbau relativ selten, aber auch der nicht mehr erhaltene Saarbrücker Bahnhof von 1852 habe eine zinnenbewehrte Zweiturmfassade besessen und dürfte in seiner Form auch den Beckinger Bahnhof stark beeinflusst haben. Zwar hätten diese beiden Bahnhöfe im Saarland von seiner Architektur her eine Sonderstellung, jedoch finde man im Rheinland ähnliche Bauten, wie zu Beispiel das 1853 entstandene Empfangsgebäude in Aachen-Templerbend. Der Einfluss, den der englische Eisenbahnbau auf den Kontinent hatte, habe noch lange nachgewirkt, schreibt Neu. Die Deutsche Bahn hat das heruntergekommene Bahnhofsgelände 2009 nach langem Prozedere für einen symbolischen Preis von einem Euro an die Gemeinde Beckingen verkauft, das Parkplatz-Gelände für 32 000 Euro. Jetzt ist Calogero Cascino als Architekt für die Restaurierung des Kleinods zuständig. Der Wallerfanger steht vor allem vor einem Problem: Er muss versuchen, anhand von alten Bauplänen und Fotos den Bahnhof in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen. "Wir haben kaum was im Detail. Wir wissen zu Beispiel nicht, wie die Türen ausgesehen haben", sagt Cascino. Was man nicht als Vorlage hat, müsse man improvisieren. "Die Gefahr bei Restaurierungen ist, dass man verkitscht. Das wollen wir vermeiden. Wir wollen, dass man klar sehen kann, was wir wieder aufbauen mussten. Das ist auch ein Teil der Geschichte des Gebäudes." Bevor Cascino mit der Restaurierung starten konnte, wurde jeder Stein am Gebäude dokumentiert. Die Granatsplittereinschläge sollen zum Beispiel erhalten bleiben. Die Arbeiten sind mittlerweile vorangeschritten. Die Innenräume sind entkernt, neue Balken eingezogen und das Dach erneuert. Der zerstörte Turm wurde bereits wieder aufgebaut. Noch ist er rund, später wird er dann achteckig sein. Ende 2010 soll alles fertig ist. Dann werden in die Räume das Naturkundehaus, die Touristen-Information und ein Fahrradverleih einziehen. "Wir wollen, dass man klar sehen kann, was wir wieder aufbauen mussten."Calogero Cascino, Architekt

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