Völklingen Die zwei Leben der Völklinger Hütte

Saarbrücken · Der SR-Film „Der eiserne Schatz“ erzählt die Geschichte der Völklinger Hütte über ein Jahrhundert hinweg – morgen Premiere.

 Schieben eine ruhige Stahlkugel: Boulespieler im „Paradies“ hinter dem Unesco-Weltkulturerbe Völklinger Hütte.

Schieben eine ruhige Stahlkugel: Boulespieler im „Paradies“ hinter dem Unesco-Weltkulturerbe Völklinger Hütte.

Foto: Sven Rech

Am 4. Juli 1986 legte Hochofenmeister Manfred Baumgärtner um 12.30 Uhr im Leitstand der Völklinger Hütte den letzten Schalter um und drehte dem gewaltigen, 1881 von Hermann Röchling erworbenen und bald danach für lange Zeit florierenden Stahlwerk damit nach 105 Jahren buchstäblich die Luft ab. Anders als für viele bedeutende Industrieanlagen (darunter etwa das 1982 weitgehend abgerissene Neunkircher Eisenwerk) war dies nicht der Anfang vom Ende der Völklinger Hütte. Acht Jahre später wurde sie von der Unesco als weltweit erste Industrieanlage in die Weltkulturerbeliste eingetragen und wird heute jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Ein Glücksfall.

Ein 90-minütiger, exzellenter SR-Film von Sven Rech (Drehbuch & Regie) erzählt uns nun noch einmal die Geschichte der Völklinger Hütte von 1881 bis heute. Er tut es auf so einfühlsame, unter die Haut gehende, zeitgeschichtlich aufschlussreiche Weise, dass man dieser Doku wünschte, sie würde Eingang in alle saarländischen Schulen finden. Vier Protagonisten – allesamt ehemalige Hüttenarbeiter, die bis heute, die meisten als Hüttenführer, mit ihr verbunden sind – tragen diese mustergültige Dokumentation: Immer wieder unterlegt von historischen Filmaufnahmen, erzählen sie nicht nur, wie hart und gefährlich ihr damaliger Job in schwindelerregender Höhe und Hitze war. Nein, in „Der eiserne Schatz“ personifizieren sie die gesamte Hüttenhistorie bis in unsere Tage. Einer der bewegendsten Momente des Films zeigt den 1955 mit 16 als Schlosser in die Hütte gekommenen Detlev Thieser, wie er heute mit einer Gießkanne durch den „Paradiesgarten“ des Weltkulturerbes geht: Auf seine alten Tage ist Thieser quasi noch das geworden, was er immer schon werden wollte: Gärtner.

Etwa 20 Stunden SR-Archivmaterial über die saarländische (und speziell Völklingens) Stahlgeschichte hat Rech gesichtet und manche Trouvaille in seinen subtil komponierten Film eingebaut: Eine der schönsten zeigt Ausschnitte aus einer Doku des dänischen Fernsehens von 1964, die anhand der Familie des Niedersaulbacher „Arbeiterbauern“ Adolf Buchheit, der tagsüber als Schmied in der Hütte malochte und sich abends noch als Bauer verdingte, das damalige deutsche Wirtschaftswunder nachzeichnete. Über 50 Jahre später hocken die  Buchheits und ihre sechs Kinder nun wieder am Küchentisch, zollen die Steppkes von einst ihren Eltern höchsten Respekt vor dem von diesen damals Geleisteteten.

Indem Rech beständig Damals und Heute ineinandergleiten lässt und das große Ganze in kleinen Geschichten spiegelt, lässt er unter der Hand ein ganzes Völklinger Jahrhundert vorüberziehen. Unterlegt von Jan Aiko zu Ecks eigens für den Film komponierter, von den Maschinen inspirierter, leitmotivischer Musik und fabelhaften Aufnahmen aus dem heutigen Weltkulturerbe (Kamera: Andreas Kunz; Drohnenkamera: Alexander M. Groß). Erzählt wird dazu mal von „Hüttenflöhen“ (den Brandlöchern in Arbeitsanzügen), mal von „Erzengeln“ (Frauen, die das Eisenerz von den Lastkähnen am Saarufer auf dem Kopf bis in die Hütte trugen, ehe später dampfbetriebene Kräne diese Knochenarbeit übernahmen) oder von „Umwalzern“ (die den glühenden Walzstahl im Akkord schwangen und umsteckten). „Uns ging’s sehr gut, als die Hütte noch geraucht hat“, sagt Manfred Baumgärtners Ehefrau Gabriele im Rückblick. Für Zehntausende gab es Arbeit, Völklingen – heute nurmehr ein Schatten seiner selbst – war eine floriende Stadt voller Geschäfte.

Als Hermann Röchling 1881 das seinerzeit bankrotte, stillgesetzte Stahlwerk erwarb, hatte er aus den Fehlern der Vorbesitzer gelernt: Statt das Roheisen für die Völklinger Stahlproduktion zu importieren, ließ er es nun selbst herstellen. Das Erz dafür bezog er aus Lothringen, das nach dem 1871 verlorenen Krieg der Franzosen dem Deutschen Kaiserreich einverleibt worden war. Auch Röchlings späteres Paktieren mit den Nazis arbeitet der Film gewissenhaft auf. Und erinnert etwa daran, dass Röchling 1942 zum Kopf der „Reichsvereinigung Eisen“ der Nazis avancierte und damit die NS-Rüstungsindustrie wesentlich mitlenkte. Gleichzeitig ließ er in seinem Völklinger Werk 12 000 Zwangsarbeiter schuften. Erwähnung findet auch der bis heute schwelende Streit um den Namen der (neben einem Krankenhaus, Schwimmbad oder Schlafhaus unweit der Hütte) von Röchling geförderten Hüttenarbeitersiedlung auf der Bouser Höhe (statt „Hermann-Röchling-Höhe“ heißt sie heute nur noch „Röchling-Höhe“). Hinreißend gerät dabei eine Einstellung, die Gabriele Baumgärtner dort beim Fensterputzen zeigt, wobei die von ihr eingeseifte Scheibe erst nach und nach den Blick freigibt auf die Silhouette der Hütte.

Zu Rechs ergiebigem, dankenswerterweise die Hüttenarbeiter (und einige der heutigen „guten Seelen“ des Weltkulturerbes wie den Kunsthistoriker Hendrik Kersten oder den ihre Flora und Fauna studierenden Biologen Steffen Caspari) ins Zentrum setzenden Ansatz passt, dass Weltkulturerbe-Zampano Meinrad Maria Grewenig erst gegen Ende des Filmessays zu Wort kommt. Wobei dessen unbestreitbare Verdienste für die Folgenutzung der Hütte nicht unter den Tisch fallen. Nachdrücklich gewürdigt wird auch die Initiative Völklinger Hütte: Ohne ihr Engagement und ihren langen Atem wäre „das alte Schätzchen“, wie die Hüttenarbeiter ihr Arbeitsreich einst nannten, nie und nimmer erhalten worden. Der Film lässt mit Manfred Görgen einen der Initiativ-Väter nochmal erzählen, wie er 1994 beim entscheidenden Besuch zweier Unesco-Kommissionäre diese „in alle Ecken reingeführt und sie am Ende überzeugt“ hat. Chapeau!

Dass das alte Schätzchen heute höchst profitabel ist und eine durchschnittliche Nettowertschöpfung von zwölf Millionen Euro im Jahr erzielt, beweist: Der Schalter, den Manfred Baumgärtner 1986 umgelegt hat, wurde später nochmal erfolgreich umgedreht. Einmal sieht man den einstigen Hochofen-Chef Hermann Hille hoch oben stehen: Man sieht ihm die Genugtuung an über das Zweitleben seiner Völklinger Hütte.

 Hermann HIlle war früher der Hochofenchef in der Völklinger Hütte.

Hermann HIlle war früher der Hochofenchef in der Völklinger Hütte.

Foto: Sven Rech
 Detlev Thieser arbeitete einst als Schlosser in der Völklinger Hütte.

Detlev Thieser arbeitete einst als Schlosser in der Völklinger Hütte.

Foto: Sven Rech

Morgen wird Sven Rechs Film um 19.30 Uhr im Saarbrücker Kino Achteinhalb erstmals gezeigt (Eintritt frei).
Der Film läuft im Rahmen der Ringvorlesung der Saarbrücker Kunst- und Landesgeschichte zum Thema „Erinnerung und Aufbruch: Das europäische Kulturerbe im Saarland nach 1945“.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort