"Die Welt sollte besser werden"

Homburg. Menachem Kallus kam mit seiner Schwester Emmie gestern zu Besuch in unsere Redaktion. "Es ist wichtig, hier sein zu dürfen", sagte er auf Englisch, "denn es liegt mir viel daran, dass nicht vergessen wird, was damals war

 Der Holocaust-Überlebende Menachem Kallus und seine Schwester Emmie Arbel (rechts) zu Besuch in der Redaktion. In der Mitte die Schwägerin Alice Hoffmann. Foto: Michael Schanding

Der Holocaust-Überlebende Menachem Kallus und seine Schwester Emmie Arbel (rechts) zu Besuch in der Redaktion. In der Mitte die Schwägerin Alice Hoffmann. Foto: Michael Schanding

Homburg. Menachem Kallus kam mit seiner Schwester Emmie gestern zu Besuch in unsere Redaktion. "Es ist wichtig, hier sein zu dürfen", sagte er auf Englisch, "denn es liegt mir viel daran, dass nicht vergessen wird, was damals war." Menachem Kallus ist ein Überlebender des Holocaust, der mit zwölf Jahren zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern Emmie und Rudi, damals sieben und zehn Jahre alt, nach Ravensbrück verschleppt wurde. Wie durch ein Wunder überlebten die drei Kinder, die Mutter starb eine Woche nach Kriegsende im Lager Bergen-Belsen. "Sie war zu geschwächt", sagt Emmie, "wir waren alle schwer krank." Eine Typhusepidemie wütete im Lager, auch Anne Frank starb bekanntlich daran. "Wir haben sie nicht getroffen", sagt Emmie, "aber ich weiß, wie es ihr erging." Deshalb hat das Tagebuch für Emmie Arbel und Menachem Kallus eine große Bedeutung. Beide weilen derzeit eine Woche im Saarland, um anlässlich der Homburger Anne-Frank-Ausstellung aus ihrem Leben zu erzählen. Außerdem besuchen beide ihre Schwägerin, die bekannte Schauspielerin Alice Hoffmann. Denn Hoffmanns langjähriger, inzwischen verstorbener Lebensgefährte, war eben jener Bruder Rudi, der mittlere der drei Kallus-Kinder. "Sie sind meine Familie" sagt Alice Hoffmann und legt den Arm um Emmie und Menachem. Beide wohnen seit 1949 in Israel, in der Nähe von Haifa. Alice Hoffman fährt jedes Jahr zu Besuch dorthin. Dass Menachem Kallus Englisch spricht, hat praktische Gründe: Seit seinem 14. Lebensjahr hat er kein Deutsch mehr benutzt. Aber er versteht alles, man kann ihm problemlos auf Deutsch Fragen stellen. Das kommt auch den Schulkindern zu Gute, die er besucht. "Sie wollen alles wissen", sagt Kallus, "zum einen, wie es damals war. Aber hauptsächlich fragen sie mich nach meinen Gefühlen." Was empfand er nach der Befreiung? Was fühlte er, nachdem er auf den Listen der Überlebenden seine Geschwister wiederfand? Wie wächst man auf, entwurzelt und ohne Eltern? Dies alles erzählt Kallus, geduldig, verständnisvoll und doch auch ein Stück weit distanziert. Es bringe nichts, junge Menschen mit den schrecklichen Einzelheiten des täglichen KZ-Daseins zu konfrontieren, sagt er, "aber Erlebnisse, die exemplarisch sind für menschliches Fehlverhalten, die schildere ich." Wie zum Beispiel aus Opfern plötzlich Täter werden können, nur weil die Opfer die Uniform wechseln dürfen. Menachem Kallus wünscht sich heute Normalität zwischen Deutschen und Juden, er möchte nicht dauernd mit deutschen Schuldkomplexen konfrontiert werden. Auch der vieldeutige Satz: "Ach sooo, Sie sind Jude", schaffe eine Ausnahmesituation, die er gar nicht möchte. Was er sich für die Zukunft wünscht? "Aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen", sagt Kallus. "Hauptsächlich fragt man mich nach meinen Gefühlen" Menachem KallusMeinung

Der Verlust der Kindheit

Von SZ-RedakteurinChristine Maack Es ist schon so - wenn man einem Überlebenden des Holocaust begegnet, sind spontan aufsteigende Schuldgefühle nicht von der Hand zu weisen. Man könnte durchaus verstehen, wenn jemand wie Menachem Kallus sich weigerte, Deutsch zu sprechen oder kein gutes Haar an Deutschland ließe. Aber das ist überhaupt nicht der Fall. Juden wünschen sich Normalität im Umgang mit Deutschen, sie wollen nicht die ewigen tragischen Opfer sein. Was geschehen ist, kann weder vergeben oder vergessen werden, aber man kann es analysieren: Täter- und Opferverhalten untersuchen, erkennen, wie von perfiden Machthabern die Grausamkeit zum Alltag gemacht wird. Wie es kommt, dass Menschen es normal finden, dass ihre Nachbarn abgeholt werden und verschwinden. Menachem Kallus kennt alle Abgründe der menschlichen Seele, er musste dieses Wissen als Kind erwerben, um zu überleben. Es hätte gerne darauf verzichtet, denn dies war gleichzeitig der Verlust seiner Kindheit. Er hat nicht, wie andere Menschen, glückliche Erinnerungen an die Zeit zwischen acht und 14 Jahren. Er kennt nur die Trauer. Auch darüber, dass er nicht weiß, was er seinen Enkeln mitbringen soll. Weil er nie erfahren hat, wie Kinder spielen.

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