Minister-Interview zur Schulpolitik „Die Debatte ist damit noch nicht beendet“

Saarbrücken · Saar-Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) spricht über das Scheitern des G9-Volksbegehrens, die Lehrer-Hilferufe und die Konsequenzen.

 Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) schließt eine Rückkehr zu G9 an Gymnasien auch nach dem Scheitern des Volksbegehrens nicht aus.

Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) schließt eine Rückkehr zu G9 an Gymnasien auch nach dem Scheitern des Volksbegehrens nicht aus.

Foto: Iris Maria Maurer

Das Volksbegehren für eine Rückkehr zu G9 an saarländischen Gymnasien ist zwar gescheitert, aber die Debatte um mögliche Reformen des Schulsystems ist nicht vom Tisch, sagt Bildungsminister Ulrich Commerçon. Zum Abschluss der SZ-Serie „Zurück zu G9?“ erklärt der SPD-Politiker, wo er die Probleme beim Streitthema G8/G9 sieht, wie es nun weitergeht – und was zu tun ist gegen die alarmierenden Zustände an Saarbrücker Gemeinschaftsschulen, die durch Lehrer-Hilferufe bekannt wurden.

Herr Commerçon, nennen Sie uns je drei Vor- und Nachteile des Abiturs in acht Jahren an Gymnasien?

COMMERÇON Das fällt mir schwer, weil ich glaube, dass die Fragestellung von falschen Voraussetzungen ausgeht. Ich bin nicht der Auffassung, dass man Schülerinnen und Schüler in eine Jahrgangsbezogenheit reinpressen sollte. Ich glaube deswegen nicht, dass es sinnvoll ist, nur über die Frage G8 oder G9 zu diskutieren. Wir müssen eigentlich darüber diskutieren, wie können wir Bildung im eigenen Takt ermöglichen. Es gibt Schüler, für die ist das gut, wenn sie möglichst frühzeitig ein Studium oder eine Ausbildung anfangen können. Das wäre ein Vorteil von G8. Andere brauchen aber eben länger. Das ist ganz normal. Insofern verweigere ich die Aussage. Zur Einführung hieß es damals natürlich, die deutschen Jugendlichen seien viel zu alt, wenn sie ins Berufsleben eintreten. Einigen hat es aber gut getan, dass sie so alt waren. Deswegen ist die Begründung für mich bis heute nicht stichhaltig.

Roman Herzog gab den Impuls.

COMMERÇON Ja, die Ruck-Rede von Roman Herzog. Ich gebe zu, ich war noch nie ein Fan von ihm. Zumindest nicht, als er dann in die Politik ging. Ich muss ja nicht alles teilen, was alle Bundespräsidenten mal gesagt haben. Da bin ich nicht seiner Auffassung. Es stimmt auch im europäischen Vergleich so nicht. Ich kann das Abitur nicht vergleichen mit dem Bac in Frankreich, das keine allgemeine Hochschulreife ist. Insofern kann ich durchaus ein paar Nachteile benennen, die dadurch entstanden sind, wie das G8 bei uns eingeführt wurde. Es ist ein Nachteil, wenn die gleiche Unterrichtszeit in einen kürzeren Zeitraum in der Woche gepresst werden muss. Fast gleichzeitig wurde zudem der sechste Schultag am Samstag abgeschafft. Beides bei Aufrechterhalten der Gesamtstundenzahl, die ein Schüler bis zum Abitur machen muss. Dann ist es natürlich fatal, wenn Schüler von acht Uhr bis 15.30 Uhr ohne Pause, anständige Verpflegung und Bewegung in so eine Klasse gesteckt werden. Der eigentliche Nachteil sowohl von G8, als auch von G9 ist, dass es zu sehr darum geht, die Kinder in das System zu pressen – statt umgekehrt zu sagen, was können wir am System ändern, um stärker auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen.

Die Frage nach den Vor- und Nachteilen von G9 erübrigt sich also?

COMMERÇON Ja. Ich glaube zwar sehr wohl, dass die Frage der Schulzeit ein Problem ist. Aber ich bin der festen Überzeugung, sie ist bei weitem nicht das größte Problem, das wir bildungspolitisch zu lösen haben. Wir brauchen kluge Lösungen, die die Stärken jeder Schülerin und jedes Schülers in den Mittelpunkt stellt. Wie gesagt, die Bildung im eigenen Takt. Roman Herzog damals hat ja nur die Verwertbarkeit von Humankapital für den Arbeitsmarkt im Blick gehabt, die Ideologie steckte dahinter. Ich glaube nicht, dass das die primäre Aufgabe eines Bildungsministers und Bildungssystems ist. Das ist ein Eigenwert, der zunächst völlig unabhängig ist von der Verwertbarkeit für das Kapital. Ich drücke es hier mal gerne mit Karl Marx aus.

Das ist ja auch ganz aktuell angesichts des 200. Geburtstags 2018.

COMMERÇON Ja, Marx hat viel Richtiges gesagt. Und manchmal mehr Recht gehabt als Roman Herzog.

Auch wenn das Volksbegehren gegen G8 gescheitert ist, die Unzufriedenheit der Eltern wird bleiben. Wie gehen Sie nun damit um?

COMMERÇON Wir haben uns in der Koalition darauf verständigt, dass wird die Frage G8 oder G9 unabhägig vom Ausgang des Volksbegehrens diskutieren. Ich habe dazu eine Experten-Kommission eingerichtet, die sich mit den Fragen der Gleichwertigkeit, neuen Unterrichtsformen, mit den Herausforderungen des Bildungssystems insgesamt befasst. Wir haben ausdrücklich festgelegt, das Thema in der Kommission zu diskutieren und im Lichte dieser Diskussion eine Entscheidung zu treffen, auch wenn das Volksbegehren scheitert. Es gibt da keinen Automatismus. Das ist eine Vereinbarung zwischen CDU und SPD in diesem Land.

Woran lag das Scheitern aus Ihrer Sicht?

COMMERÇON Ich glaube nicht, dass die Zahl der benötigten Stimmen (etwa 55 000) die Hürde war. In Umfragen kriegen Sie immer eine Drei-Viertel-Mehrheit gegen G8 unter Eltern, aber auch in der Gesamtbevölkerung. Aber ob ich dafür extra auf mein Rathaus gehe, eine Unterschrift leiste, das ist eine ganz andere Sache. Ich finde es aber okay. Ich bin ein überzeugter Anhänger des Parlamentarismus. Ich bin nicht der Auffassung, dass das Plebiszit die bessere Wahl ist. Eine Initiative, die das ehrenamtlich und auch ehrenwert macht, hat gar nicht das Handwerkszeug, um ein Gesetz zu machen. Deshalb ist der Parlamentarismus in einer so komplexen Gesellschaft wie der unseren das bessere System, als eines, das auf Volksentscheide abzielt, die immer nur Fragen mit Ja oder Nein beantworten. Im Übrigen war der Gesetzentwurf der Initiative „G9-Jetzt!“ gar nicht umsetzbar. Das ist kein Vorwurf, das sind Laien, die können keine Gesetzestexte formulieren. Er würde bedeuten, dass wir mitten in einem Schuljahr für alle Kinder sofort am Gymnasium umsteigen müssten auf G9. Selbst die, die jetzt im 11. oder 12. Schuljahr sind, würden einfach noch ein Jahr dranhängen müssen. Das geht gar nicht.

Was folgt jetzt daraus?

COMMERÇON Zum Glück hat unsere Verfassung Vorsorge getroffen und dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, das Grundanliegen des Volksbegehrens aufzunehmen, den Gesetzestext dann aber so zu formulieren, dass es auch möglich ist. Der Druck wäre selbstverständlich höher gewesen, wenn das Volksbegehren Erfolg gehabt hätte. Trotzdem ist damit jetzt nicht die Debatte um die längere Schulzeit im Saarland beendet. Auch wenn man zum G9 zurückkehrt, wird man das ordentlich vorbereiten müssen.

Warum sehen die Eltern das Gymnasium weiter als beste Schule für ihre Kinder an, wenn es darum geht, das Abitur zu schaffen? Als besser als die Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe (und G9)?

COMMERÇON Das Gymnasium gilt in breiten Teilen der Öffentlichkeit als die vermeintlich bessere Schule. Es zeigt sich aber, dass das nicht überall noch so ist. Es ist uns gelungen, das in den letzten Jahren aufzubrechen. Wir haben einige gute Gemeinschaftsschulen, vor allem die sehr stark der Gesamtschultradition verpflichtet sind. Es gibt dort mittlerweile eine sehr hohe Schülerzahl, die auch die Empfehlung für das Gymnasium hat. Aber die Unsicherheit ist groß. Ich habe schon damals kritisiert, die Gemeinschaftsschule ist genau wie das G8 zu überstürzt und unvorbereitet eingeführt worden ist. Wir haben uns im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, die Gleichwertigkeit zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule herzustellen.

Aber die gibt es noch nicht?

COMMERÇON Nein, sie ist noch bei Weitem nicht gegeben. Das zeigt sich schon in den Ressourcen. Und an einer höheren Heterogenität an Gemeinschaftsschulen.

Und die Lehrer werden unterschiedlich bezahlt?

COMMERÇON Ja, das ist richtig. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass wir im Laufe der nächsten Jahrzehnte dazu kommen müssen, dass wir die gleiche Besoldung aller Lehrämter brauchen. Das Saarland wird allerdings nicht das erste Land sein, das das vollumfänglich umsetzt. Wir haben damit aber schon begonnen.

Zurück zu den Unterschieden zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule...

COMMERÇON Das Ansehen mancher Gemeinschaftsschule ist noch nicht so hoch wie das des Gymnasiums. Ich glaube, das hat viel mit Traditionen zu tun, aber auch etwas mit der öffentlichen Wahrnehmung. Da sage ich manchmal: Das ist die Lebenslüge der Anhänger des Gymnasiums. Die besagt, dass das Gymnasium alle Schüler zum Abitur führt. Das ist nicht der Fall. Was den Trend zum Gymnasium angeht, den haben wir gestoppt. Seit meinem Amtsantritt sind die Anmeldezahlen und die Verteilung auf Gymnasien und Gemeinschaftsschulen absolut konstant geblieben. Ich glaube, dass so langsam auch die Eltern die Vorteile sehen, die die Gemeinschaftsschulen haben. Insbesondere in der Form des gebundenen Ganztagsunterrichts. Dort haben wir massiv steigende Zahlen. Derzeit haben die Gymnasien auch noch den Vorteil, ausgeprägte Profile zu haben, etwa für Sprachen. Den müssen sich die Gemeinschaftsschulen noch erarbeiten. Das ist im ländlichen Raum ein bisschen leichter, als das im städtischen Raum der Fall ist, etwa hier in Saarbrücken.

Fürchten Sie nicht, dass die jüngsten Hilferufe von Saarbrücker Gemeinschaftsschulen der Akzeptanz bei Eltern weiter schaden?

COMMERÇON Wir haben ja gerade dort, wo die Gemeinschaftsschulen ernsthafte Schwierigkeiten haben, nicht die Situation, dass wir zu wenig Kinder hätten. Das macht mir keine Sorge. Ich würde mir manchmal weniger Anmeldungen an diesen ganz großen Gemeinschaftsschulen in Saarbrücken wünschen. Wir haben ja ohnehin zu wenig Kapazitäten. Die Probleme, vor allem die verschärften Probleme aufgrund von Kinderarmut, stellen sich im ländlichen Raum nicht so stark dar. Das ist nichts, was wir an den Gemeinschaftsschulen in Türkismühle, Gersheim oder Freisen so stark spüren würden. Das ist schon sehr fokussiert in Saarbrücken, Völklingen, teilweise Neunkirchen. Im Ballungsraum waren in den letzten Jahren plötzlich zu viele Kinder an den Gemeinschaftsschulen. Das darf man nicht so missverstehen, als hätte ich selbst dafür gesorgt, dass die Briefe an die Öffentlichkeit kommen, um abschreckende Wirkung zu entfalten. Das hat ja nichts mit unserem Bildungssystem zu tun, sondern mit Sozialpolitik.

Die Probleme scheinen aber aus der sozialen Zusammensetzung der Schüler zu kommen. Wäre es nicht besser, wenn Sie eine Verschmelzung von Gymnasien und Gemeinschaftsschulen zur Einheitsschule bis Klasse zehn wie in anderen Ländern auf den Weg bringen, sodass die Entscheidung Abi oder nicht erst später fällt? Wo Hartz-IV-Kinder und Kinder von Millionären gemeinsam lernen?

COMMERÇON Auch da ist die Ausgangs-These nicht richtig. Die Unterschiede in der Heterogenität der Schulen sind nicht mehr so groß wie früher. Ich weiß auch nicht, wie viele Millionärskinder wir im Saarland haben. Aber das soziale Problem ist ja nicht, dass die Kinder in der Schule ankommen. Das ist der Vorteil. Das Problem ist, dass Kinder in Armut leben, in prekären Verhältnissen. Das wird nicht dadurch behoben, dass sie in die Schule gehen. Das ist eine Aufgabe der Sozialpolitik.

Hat die soziale Debatte durch die Lehrer-Hilferufe dem G9-Volksbegehren eigentlich Öffentlichkeit genommen und damit geschadet?

COMMERÇON Das Volksbegehren lief seit Oktober. Ich habe nicht den Eindruck, dass es in dieser Zeit eine Überlagerung durch andere schulpolitische Themen gegeben hätte. Wir hatten eine Woche ein Strohfeuer (durch die Lehrer-Briefe). Im Übrigen rede ich mir seit Jahren den Mund fusselig, dass wir diese Probleme haben. Dass wir dafür das Kooperationsverbot auflösen müssen, dass der Bund uns helfen muss. Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir uns gerade um diese Schulen kümmern, mehr Geld bereitstellen müssen. Lehrer haben wir zur Verfügung gestellt. Das reicht aber nicht. Die Sozialpolitik versagt hier an vielen Stellen komplett. Ich höre von Sozialpolitikern auch kein Sterbenswörtchen zu dem Thema. Kinder kommen ohne Frühstück, mit mangelhafter Kleidung, frierend, verwahrlost, mit Klappmessern in die Schulen. Ja, mein Gott, das ist doch kein Problem der Bildungspolitik! Wo ist denn die Jugendhilfe gewesen? Dann sagen die Lehrer, das schaffen wir nicht mehr. Natürlich nicht. Es ist auch nicht ihr Job. Lehrer sollen guten Unterricht machen, nicht verwahrlosten Kindern ein Frühstück besorgen. Und ihnen erklären, dass sie nicht mit Waffen in die Schulen zu kommen haben. Das ist doch völlig schräg.

Wer ist denn in der CDU/SPD-Landesregierung verantwortlich für die Fehler in der Sozialpolitik?

COMMERÇON Zunächst mal ist nicht immer die Politik verantwortlich. Zunächst mal sind es die, die früher in Ruck-Reden gesagt haben, alles muss den Kapitalverwertungs-Interessen unterworfen werden. Auch G8 wurde auf Druck der Wirtschaft eingeführt, es war kein Vorschlag von Pädagogen oder Bildungspolitikern. Politik hat den Fehler gemacht, dem Kapital nachzugeben. Das hatte auch zur Folge, dass das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Und die, die ärmer werden, fühlen sich immer abgehängter. Wir haben in der Bildungspolitik an vielen Stellen reagiert. Bei Krippenplätzen, Grundschulen, Gemeinschaftsschulen. Aber das Problem ist damit nicht gelöst. Es gibt auch eine zunehmende Wohlstandsverwahrlosung, wo Eltern sich freikaufen. Und um den Rest soll sich dann der Kindergarten oder die Schule kümmern. Das kann ja nicht funktionieren. Wir sind an einer Systemgrenze, die nicht nur von der Bildungspolitik zu beantworten ist. Wo wir uns als Gesellschaft auch fragen müssen: Geht es wirklich nur darum, immer mehr Wachstum für einige wenige? Oder sagen wir endlich mal: Verdammt, wir sind eine der reichsten Gesellschaften der Welt und lassen es zu, dass Kinder sich nicht mal anständige Schulbücher und Ranzen leisten können. Das ist doch der eigentliche Skandal, der dahinter steckt.

 Die SZ-Redakteure Frauke Scholl und Dietmar Klostermann (v.l.) im Gespräch mit Ulrich Commerçon in dessen Büro. Rechts seine Sprecherin Marija Herceg.

Die SZ-Redakteure Frauke Scholl und Dietmar Klostermann (v.l.) im Gespräch mit Ulrich Commerçon in dessen Büro. Rechts seine Sprecherin Marija Herceg.

Foto: Iris Maria Maurer

Die Saarbrücker Zeitung begleitete das Volksbegehren im Saarland mit einer Serie zum Thema G8/G9. Das Minister-Interview bildet den Abschluss. Alle Serienteile finden sich auch auf www.saarbruecker-zeitung.de/g9-serie

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