Der lange Weg in den Amoklauf

Saarbrücken · An fast 80 Schulen im Saarland sind Krisenteams aktiv. Sie sollen für gutes Klima sorgen und potenzielle Gewalttaten vermeiden. Wie das gelingen kann, haben Pädagogen, Polizei und Psychologen gestern diskutiert.

Wie lassen sich Bluttaten an Schulen verhindern und was lehren die Amok-läufe der Vergangenheit über die Täter? Mit derartigen Fragen hat sich gestern in Saarbrücken die erste saarländische Fachtagung zu "Zielgerichteter schwerer Gewalt und Amok an Schulen" befasst. Einen "Appell zur Krisenprävention" schickte dabei der Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer an die 250 Gäste. "Nicht warten, bis die Krise eintritt, sondern diese verhindern", mahnte der Professor der Freien Uni Berlin. Mit "Krise" meinte er das schwere innere Dilemma des Täters, das der Bluttat vorausgeht. Die Amokläufe an Schulen seien keine spontanen Taten. "In der Regel handelt es sich dabei um den Endpunkt einer langanhaltenden, krisenhaften Entwicklung", beschrieb es Scheithauer.

Wissenschaftler haben im Laufe der Jahre Anhaltspunkte zu den jungen Tätern gesammelt: Eine extreme Wut, paranoide Ideen, Depression oder asoziale und narzisstische Neigungen hätten den psychologischen Hintergrund vieler Amoktäter in den USA geprägt, beschrieb Richard Tamplin von der US-Bundespolizei FBI.

Ähnliches schilderte auch Scheithauer: Viele der späteren Täter seien mit einem niedrigen Selbstwertgefühl ausgestattet, introvertiert und unfähig, Konflikte zu lösen. Die Empfindung, etwa in der Schule ausgegrenzt oder gemobbt zu werden, quäle den Betroffenen. "Er kommt damit nicht klar und begibt sich auf den Weg in eine existenzielle Krise", sagte Scheithauer. Angst und ein weiter abnehmendes Selbstwertgefühl prägten die folgende Phase. Wut und Rachegedanken kämen auf. Der Jugendliche ziehe sich bald zunehmend in seine eigene Welt zurück, entwickele Allmachts- und Gewaltfantasien. Die Lage kippe, wenn der Jugendliche eine Umdefinition seiner selbst "vom Opfer zum Rächer vornehme", erklärte Scheithauer weiter. Dies ginge mitunter einher mit einer Verhaltensveränderung: Plötzlich trete ein bisher scheuer Jugendlicher sehr sicher und extrovertiert auf oder breche Freundschaften ab. In einer letzten Phase, so die Erkenntnis der Wissenschaftler, folgt die konkrete Planung der Tat. Damit es soweit nicht kommt, sollte das Umfeld in der Lage sein, die Warnsignale zu lesen und die einer Tat vorausgehenden Phasen zu erkennen. "Wie überall sind es diejenigen an der Basis, hier das Lehrpersonal, mit dieser großen Verantwortung", sagte Tamplin in die Runde, in der am Donnerstag neben Polizisten und Psychologen auch gut 150 Lehrer und Sozialarbeiter saßen.

Ihnen kommt an den saarländischen Schulen seit knapp drei Jahren bei Krisenlagen eine besondere Rolle zu. Als Reaktion auf den Amoklauf von Winnenden vom März 2009 mit 16 Toten hatten das Saar-Bildungsministerium und das Landesinstitut für Präventives Handeln (LPH) ein Ausbildungsprogramm für schuleigene Krisenteams ins Leben gerufen. Sie sollen die Signale gefährdeter Jugendlicher erkennen, um sich im Ernstfall um Hilfe zu kümmern. Insgesamt 374 Pädagogen und Sozialarbeiter von 78 weiterführenden Schulen hat das LPH seit Start des Programms geschult.

In ihrer Weiterbildung beim LPH, das gemeinsam mit dem Landessozialministerium auch die Fachtagung ausrichtete, lernen Teilnehmer auch präventiv zu agieren, um für ein angenehmes Schulklima zu sorgen. Als ein positives Beispiel dafür erzählte Fridolin Schwörer, ehemaliger Schulleiter einer Freiburger Realschule, von den Erfahrungen an seiner "gewaltfreien Schule". Per "Schulvertrag" verpflichteten sich die Jugendlichen dort zu Friedfertigkeit, und auch Lehrer und Eltern arbeiteten an einem fairen Miteinander mit.

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