Interview mit Sonnenberg-Chefarzt Ulrich Seidl Burnout: „Erschöpfung darf man nicht unterschätzen“

Interview | Saarbrücken · Der Chefarzt der Psychiatrie der SHG-Kliniken Sonnenberg, Privatdozent Dr. med. Ulrich Seidl, über die Gefahren von Burnout.

 Chefarzt Ulrich Seidl sieht heutzutage eine zu inflationäre Verwendung des Begriffes „Burnout“.

Chefarzt Ulrich Seidl sieht heutzutage eine zu inflationäre Verwendung des Begriffes „Burnout“.

Foto: Robby Lorenz

Was versteht man unter Burnout?

Seidl Tatsächlich ist Burnout gar nicht so einheitlich definiert. Der Begriff Burnout geht auf einen amerikanischen Psychoanalytiker zurück, der den Zustand in den 70er-Jahren beschrieben hat. Er beschreibt damit eigentlich Mitarbeiter im Gesundheitswesen, die so überengagiert sind, dass sie sich selbst ausbeuten. Irgendwann werden sie dann verbittert und zeigen starke Erschöpfungssymptome. Burnout in dem Sinne ist nicht einheitlich operationalisiert, es gibt keine festen Kriterien dafür. Das ist auch ganz wichtig: Es ist eigentlich keine wirkliche Diagnose, weil es ein Erschöpfungszustand ist, in den jemand gerät. Meist geht diesem Zustand eine Form der Selbstaufopferung zuvor, die über mehrere Jahre hinweg anhält und letztlich dann in einer riesigen Erschöpfung endet.

Ist Burnout immer mit der Arbeit verknüpft?

Seidl Das steht nirgendwo so geschrieben. So wie es ursprünglich beschrieben wurde, steht es aber immer in Verbindung mit der Arbeit, vor allen Dingen eben mit Arbeit im Gesundheitswesen. Es kann aber natürlich auch sein, dass jemand Burnout entwickelt, weil er sich für die Familie aufopfert. Wichtig ist aber, dass am Anfang des Burnout immer eine Haltung steht, bei der man für etwas gebrannt hat. Ausbrennen kann nur jemand, der wirklich gebrannt hat. Die Betroffenen gehen nicht einfach ganz normal irgendeiner Arbeit nach und brennen dann plötzlich aus. Es sind Leute, die sehr viel Leidenschaft und Herzblut in eine Sache gesteckt haben und dann irgendwann an den Rahmenbedingungen verzweifeln. Und gerade im Gesundheitswesen kommt es häufig zu diesen Umständen: Die Leute starten mit viel Idealismus, engagieren sich stark und merken dann aber irgendwann, dass sie nicht mehr hinterherkommen und zu wenig zurückbekommen.

Wie häufig tritt Burnout auf?

Seidl Das ist kaum zu beantworten, weil Burnout nicht einheitlich definiert ist und wir es nicht richtig messen können. Deshalb gibt es auch keine eindeutigen Studien dazu. Es gibt Burnout-Skalen, aber da gibt es auch keine ganz klare Festlegung, ab wann man von Burnout sprechen kann. Deswegen geistern immer mal wieder Zahlen rum, wie viele Menschen Burnout-gefährdet sind. Je nachdem, wie niedrig sie hierbei die Schwelle ansetzen, kommen sie aber auf eine riesige Zahl, die vielleicht nicht wirklich realistisch ist.

Wird der Begriff Burnout heutzutage zu inflationär verwendet?

Seidl Ja, auf jeden Fall. Er wird inflationär und auch oft als Selbstzuschreibung verwendet. Patienten sagen von sich selber, dass sie ein Burnout haben, obwohl vielleicht etwas ganz anderes dahinter steckt. Viele meinen damit auch nur, dass sie etwas überfordert oder erschöpft sind. Ich bin zum Beispiel immer skeptisch, wenn Studenten sagen, dass sie ein Burnout haben, weil das Studium in der Regel nicht mit dem oben angesprochenen Maß an Selbstaufopferung verbunden ist. Im Gespräch merkt man dann meist, dass eine Überforderungssituation vorliegt, aber eben nicht die klassischen Mechanismen für ein Burnout.

Woran denken Sie liegt die inflationäre Verwendung?

Seidl Es ist eine einfache Möglichkeit, psychisches Leiden so zu verpacken, dass man gut dasteht. Wenn ich sage, dass ich eine Depression habe, dann ist das immer noch sehr stigmatisiert. Viele assoziieren damit immer noch Schwäche. Burnout bedeutet genau das Gegenteil. Ich habe richtig viel geschafft und deswegen bin ich jetzt ausgebrannt. Es hat ein besseres Image. Es sagt sich einfach leichter.

An was für Symptomen würden Sie Burnout bei Menschen festmachen?

Seidl Ich würde es an mehreren Kriterien festmachen. Erst einmal eine starke Erschöpfung. Betroffene können nicht mehr auftanken, selbst ein Urlaub reicht nicht mehr aus. Es ist ein permanentes Angespanntsein. Auch ganz wichtig ist die Haltung zu der Ursache des Burnouts. Man ist tatsächlich enttäuscht und frustriert, möglicherweise sogar verbittert. Die Menschen sind an etwas mit Leidenschaft herangegangen, sind aber mit der Zeit dennoch gescheitert. Mit dieser Diskrepanz kommen die Menschen nicht klar.

Wie äußert sich das bei den Personen im Arbeitsleben?

Seidl Sie werden zum Beispiel zynisch und zeigen Anzeichen einer Verbitterung, sprich eine chronische Form der Enttäuschung. Die Betroffenen klagen sehr viel über die Umstände und sind bitter darüber, dass es anders gekommen ist, als sie es sich gewünscht hätten. Auch das Gefühl von Ausbeutung herrscht häufig vor.

Im Vergleich zu den anderen Krankheiten, die wir besprechen, klingen die Symptome erst einmal nicht so schlimm. Täuscht das?

Seidl Aus der Beschreibung mag es zuerst harmlos klingen, aber all das sind ganz lange Prozesse über Jahre hinweg, die ganz massive Veränderungen bei den Personen auslösen. Wenn man lange Leidenschaft für ein Thema hatte und dann nach Jahren tief enttäuscht, erschöpft und ausgebrannt ist, dann ist das schon sehr dramatisch. Natürlich ist es eine andere Qualität als bei Krankheiten wie Schizophrenie, aber für die Betroffenen sind die Umstände sehr hart. Und mit einem Burnout geht auch immer das Risiko einher, dass sich zusätzlich noch eine Depression oder zusätzliche körperliche Krankheiten entwickeln, sei es jetzt Bluthochdruck oder ein Magenleiden.

Worin liegt der Unterschied zu einer Depression?

Seidl Bei der Depression haben sie immer viele verschiedene Faktoren, die zusammenkommen, aber letztlich nie die eine Erklärung für die Krankheit. Sie haben ganz bestimmte Symptome, typischerweise auch sehr biologisch geprägte Symptome wie Kraftlosigkeit oder Appetitlosigkeit. Diese biologischen Symptome sind beim Burnout erst eine Folge der Entwicklung. Burnout ist außerdem besser nachvollziehbar, es hat eine Geschichte. Der Zustand hat klare Ursachen. Darüber hinaus entwickelt sich eine Depression nicht über Jahre, sondern schneller als ein Burnout. Der Verlauf bis hinein in die schwere Depression zieht sich üblicherweise nur über Monate. Auch die Grundsymptomatik ist natürlich eine andere. Ein Verblassen der Gefühle gibt es beim Burnout nicht unbedingt, da geht es eher um Wut und Angst. Das emotionale Betäubt-Sein haben sie nur bei der Depression.

Ist jeder Mensch für Burnout anfällig?

Seidl Ja und nein. Man kann nicht sagen, dass jeder Mensch, der mit Leidenschaft für etwas brennt und sich dann damit überfordert, Burnout kriegt. Die Menschen, die irgendwann von Burnout betroffen sind, zeichnen sich durch ein hohes Maß an Selbstopferung aus und eben auch das Bedürfnis, sich ganz für eine Sache zu engagieren. Je ausgeglichener man ist, je besser man für sich sorgt und sich auch mal zurücknehmen kann, ohne zu viel Energie in eine Sache zu investieren, desto besser ist man geschützt.

Wann gehen betroffene Personen zum Arzt?

Seidl Meistens gehen diese Personen erst zum Arzt, wenn sich Folgekrankheiten entwickelt haben. Sie haben dann mit körperlichen Krankheiten zu kämpfen oder sind tatsächlich in einen depressiven Zustand gefallen.

Ist die größte Gefahr an Burnout die Möglichkeit von schweren Folgekrankheiten?

Seidl Auf jeden Fall. Aber natürlich auch das, was es mit den Betroffenen macht. Dieses extreme Enttäuscht-Sein und die Erschöpfung darf man nicht unterschätzen. Die schlimmste Folge ist sicherlich, dass die Betroffenen potenziell am Ende keine Lebensqualität mehr haben. Wenn sie wirklich in einem Burnout-Zustand sind, haben sie nicht mehr viel Freude am Leben.

Wie werden die Betroffenen behandelt?

Seidl Ob man von Behandlung sprechen kann, ist in diesem Fall wohl wieder strittig. Es geht vielmehr um Beratung und Coaching, damit die Leute verstehen, was sie da gemacht haben. Sie müssen lernen, auch mal zurückzutreten. Manche Leute müssen sich auch gänzlich umorientieren. Vorher wurde sich komplett für den Beruf oder die Familie aufgeopfert, jetzt müssen andere Dinge an diese Stelle treten. Oder ich muss lernen, dem nicht mehr diese Bedeutung zu geben. Gleichzeitig braucht es natürlich auch eine erhebliche Zeit, um sich zu erholen. Und gerade das ist am Anfang schwierig, weil die Betroffenen nicht in einen Erholungszustand kommen. In die Beruhigung muss erst einmal hineingefunden werden. Inwieweit man es schafft, eine neue Art zu finden, mit sich selbst umzugehen, liegt im Endeffekt an einem selber.

Ist Burnout heutzutage ein größeres Problem als noch vor einigen Jahrzehnten?

Seidl Es gibt einen Vortrag von einem Herrn Wilhelm Heinrich Erb, der auf eine Zustand der Überreiztheit aufgrund von technologischen Fortschritten, zunehmender internationaler Vernetztheit und Beschleunigung hinweist. Erb hat diesen Zustand damals Nervosität genannt und hat diesen Vortrag 1875 gehalten. Was ich damit sagen will, ist, dass Burnout kein Phänomen der heutigen Zeit ist. Menschen, die sich überarbeiten, gab es auch früher schon.

Was sind frühe Anzeichen, die Betroffene bei sich selbst feststellen können?

Seidl Ein ganz wichtiges Zeichen ist die Unfähigkeit zu entspannen. Wenn man merkt, dass man gar nicht mehr runter kommt, nicht einmal am Wochenende oder im Urlaub und permanent in einem angespannten, energielosen Zustand ist, dann ist das ein Warnzeichen. Oder auch, wenn man merkt, dass sich an der eigenen inneren Haltung etwas ändert. Wenn ich merke, dass ich nicht mehr gern auf die Arbeit gehe, obwohl ich es früher gern gemacht habe und dann noch extrem mit den Umständen hadere. Das sind potenzielle Gefahrenzeichen.

Was würden sie entsprechenden Leuten für Tipps geben?

Seidl Man muss achtsam mit sich selbst sein und ein Gespür für sich selbst haben. Die Grenzen der eigenen Belastbarkeit sollte man kennen und sich selbst auch immer wieder kritisch hinterfragen. Wenn ich viel in etwas hineingebe, bekomme ich da auch genug zurück? Das ist eine der großen Gefahren im Gesundheitswesen. Man spricht häufig von einer Art Helfer-Komplex. Die Menschen versuchen anderen Leuten etwas zu geben, bekommen dafür aber selber nichts. Wenn ich merke, dass so etwas passiert und ich bin enttäuscht, dann muss ich vorsichtig sein. Ausgleich ist auch sehr wichtig. Man darf sich nicht für ein oder zwei Sachen gänzlich aufreiben, sondern muss immer auch noch andere Sachen haben, die Ausgleiche bieten, seien es Hobbys oder soziale Kontakte.

Warum verdient Burnout es in dieser Reihe zusammen mit den anderen schweren psychischen Krankheiten genannt zu werden?

Seidl In der Psychiatrie gibt es Krankheiten wie Schizophrenie oder eine schwere Depression, die eine ganz eigene Qualität haben. Burnout hat deshalb einen Platz in dieser Serie, weil es oft als vermeintliche Diagnose in aller Munde ist. Die meisten würden es wahrscheinlich den psychiatrischen Erkrankungen zuordnen. Aber es hat eine Sonderstellung. Und über diese Alleinstellung muss aufgeklärt werden – darum geht es mir.

Mit weiteren Fragen können sich Interessierte per Mail an die Adresse sekr.psychiatrie@sb.shg-kliniken.de wenden. Alle Texte der Serie sowie eine ausführlichere Version des Interviews finden Sie unter www.saarbruecker-zeitung.de/psychiatrie.

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