Neue Ausstellung im Centre Pompidou Die wundersame Welt der Eva Aeppli: Metz zeigt die Ausnahmekünstlerin in Frankreichs erster Retrospektive

Metz · Geisterhaft, skurril und kraftvoll: Im Centre Pompidou in Metz sind Werke von Eva Aeppli zu sehen. Die Materialkünstlerin erschuf mit ihren Textilfiguren stumme Ankläger der Gräuel des 20. Jahrhunderts. Das Metzer Kunsthaus widmet Aeppli die erste Retrospektive in Frankreich – dem Land, in dem die Schweizerin ihr gesamtes Künstlerleben verbracht hat.

Tipp für Freizeit in Frankreich: Centre Pompidou Metz zeigt Eva Aeppli
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Centre Pompidou Metz zeigt die geisterhaften Skulpturen von Eva Aeppli

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Foto: Sophia Schülke

Diese neue Ausstellung in Metz sollte man nicht verpassen: Nach den Kassenmagneten Chagall und Arcimboldo hat dieser Ausflug in das Centre Pompidou in Metz wieder das Zeug dazu, seine Besucherinnen und Besucher zu verzaubern – allerdings begleitet einen hier zeitweise ein unheimlicher Schauer durch die Ausstellungssäle. Das Metzer Kunsthaus zeigt bis zum 14. November Werke der rätselhaften Künstlerin Eva Aeppli.

Wer war Eva Aeppli?

Die Schweizerin Eva Aeppli (1925-2015) zog 1952 mit ihrem Mann Jean Tinguely, den sie an der Kunstgewerbeschule in Basel kennengelernt hatte und der bald als Hauptvertreter der kinetischen Kunst gelten sollte, nach Paris. Dort teilte sie sich zunächst mit ihrem Mann ein Atelier in der Impasse Ronsin, wo Constantin Brâncuşi zu dieser Zeit lebte, und pflegte Freundschaften mit Größen der Kunstszene wie Daniel Spoerri und Niki de Saint Phalle. Aeppli durchlebte ihre gesamte künstlerische Schaffenszeit in Frankreich. Sie gilt als Materialkünstlerin, schuf Gemälde und Zeichnungen, wurde aber vor allem durch ihre fast lebensgroßen Textilskulpturen mit den sehr ausdrucksstarken Gesichtern bekannt. Das Metzer Kunsthaus zeigt ihr vielfältiges Werk im Wechselspiel zu Werken von unter anderem Jean Tinguely, Maurizio Cattelan, Niki de Saint Phalle, Meret Oppenheim, Tacita Dean und Andy Warhol.

Was macht Aepplis Werk besonders?

Die beiden Kuratorinnen Chiara Parisi, Direktorin des Metzer Kunsthauses, und Anne Horvath sind von Aepplis Werk fasziniert, weil sich in ihm Poesie und Ernsthaftigkeit auf seltsame Weise begegnen. „Ihr Werk ist wie ein Phantasma. Es besitzt eine seltsame, bizarre Seite, die einen zugleich verunsichert und beruhigt“, sagt Parisi. Zwei Werke, in denen Aeppli dieses Wechselspiel auf die Spitze treibt, werden gezeigt. Zwischen 1965 und 1967 erschuf Aeppli mit „La Table“ ihre Version von da Vincis letztem Abendmahl: zwölf in bunte Kostüme gekleidete Männer und Frauen mit typisierten Gesichtern, in deren Mitte kein Christus, sondern der Tod sitzt. Den Tod hat sie in die Mitte gesetzt, „um die Verbrechen darzustellen, die im 20. Jahrhundert begangen wurden“, wie sie in ihrem Brief an eine Studentin beschrieb. Die Liebesbotschaft von Jesus hat sich, trotz des farbenfrohen Aufgebots dieser Gruppe, demnach nicht durchsetzen können. Einige Jahre später schuf Aeppli „Groupe de 13“, eine Hommage an die Menschenrechtsvereinigung Amnesty International, in der sie sich engagierte. Schwarzgewandete Figuren sitzen auf Stühlen, von denen drei leer bleiben, um den dramatischen Effekt zu verstärken. In ihrem Werk verarbeitete Aeppli die Gräuel des Zweiten Weltkriegs – ihre Eltern nahmen jüdische Flüchtlingskinder auf, nach dem Krieg wurde bei ihr eine durch Kriegserfahrungen ausgelöste Zwangsneurose diagnostiziert, die sich durch Obsessionen mit Sterben und Selbstzerstörung manifestierte.

Wie wirkt Aepplis Kunst?

Mit eigenen Augen sehen, um Kunst zu erfahren – das scheint für die Werke von Eva Aeppli ganz besonders zu gelten. Während Fotos von ihren Werken die ihnen innewohnende poetisch-gruselige Ambiguität kaum zu vermitteln mögen, betreten Kunstinteressierte im Metzer Kunsthaus eine seltsame Welt: fast menschhohe Textilfiguren, die aus durch Narbennähte ausdrucksstark gewordenen Gesichtern auf den Betrachter mit großen, weißen Augen zurückblicken – mal weise, mal resigniert, mal anklagend, mal schreiend. Daneben in Vitrinen Skeletthände aus Stoff; auf Stühlen ruhende Figuren, die Gemälde zu betrachten scheinen. Von einigen geht ein gruseliger Schauer aus, andere ruhen friedlich in sich. Es scheint zuweilen, als hätte sich Gruselschauer-Regisseur Tim Burton hier inspirieren lassen.

Warum erlebte Eva Aeppli nie den ganz großen Durchbruch?

1976 wurden einige von Aepplis Skulpturen zwar im Schweizer Pavillon auf der Biennale von Venedig gezeigt, aber den großen Durchbruch erlebte sie nicht. „Sie ist eine europäische Künstlerin, die sich von ihren Zeitgenossen sehr unterscheidet. Ihre Skulpturen gelten nicht als Kunst, weil sie sie anfangs für ihren Lebensunterhalt verkauft hat“, sagt Parisi. In Paris hatte sie es abgelehnt, sich einer der damals in Mode gekommenen Bewegungen wie Nouveau Réalisme und Pop Art anzuschließen, und schuf einen eigenständigen Korpus, der von der Dominanz des Abstrakten abwich. Sie blieb abseits. „Sie ist nicht Teil des Nouveau Réalisme, sie bleibt radikal figuratif“, sagt Horvath und fügt an, „nur sehr wenige ihrer Werke gehören öffentlichen Sammlungen an“. Aeppli hat sich auch nie schriftlich zu ihrem Werk geäußert – die berühmte Ausnahme von der Regel stellt ein zweiseitiger Brief aus dem Jahr 1999 an eine Studentin dar, die eine Dissertation über sie verfasste. Nicht zuletzt arbeitete sie mit einem früher als wenig „kunstvoll“ angesehenen Material: „Skulpturen als Textilien wurden abgetan, weil sie aus einem niedrigeren und alltäglichen Material waren. Sie galten als Puppen, Dass Textilskulpturen als Skulpturen anerkannt werden, ist eine neue Entwicklung“, sagt Parisi.

Warum lohnt sich der Ausstellungsbesuch?

Der Besuch lohnt schon einmal, weil es die erste der Schweizer Künstlerin gewidmete Retrospektive in Frankreich ist; dem Land, in dem Aeppli ihr gesamtes künstlerisches Schaffen verbrachte. „Das Centre Pompidou in Paris besitzt sehr schöne Werke von Aeppli. Sie gehört zu unserem Universum, aber ihr wurde hier noch keine Retrospektive gewidmet“, sagt Parisi. Die Kuratorinnen haben ein „Musée sentimental“ erdacht, ähnlich dem von Daniel Spoerri 1977 im Pariser Centre Pompidou ausgerichteten, indem sie Aepplis Werke wirkungsvoll und dramatisch in einen Dialog mit ihren Zeitgenossen und Nachfolgerinnen treten lassen. So stellen sie beispielsweise Andy Wahrhols „The Last Supper (Camel 57)“ als Replik auf Aepplis Abendmahl-Interpretation „La Table“ gegenüber.

Wie wirkt Aepplis Kunst in dieser Ausstellung?

Einen nicht unwesentlichen Anteil an dem gruseligen Schauer, den einem die Werke Aepplis zuweilen einjagen können, trägt die famose Beleuchtung bei. Inszeniert wurde der Rundgang von dem französischen Lichtdesigner Jean Kalman, Träger des Laurence Olivier-Awards, der europaweit Licht für Theater- und Opernproduktionen gestaltet hat – von der langjährigen Zusammenarbeit mit den Salzburger Festspielen bis zur Mitwirkung an Produktionen für die Ruhrtriennale. Das Licht ist dramatisch, lässt Aepplis Figuren durch die Schatten, die sie an den Wänden hinterlassen, noch einen Wink rätselhafter und lebendiger wirken. Sollte man die Ausstellungssäle hier einmal für sich haben, allein wird man sich kaum fühlen – angesichts der eigenartigen Präsenz dieser belebten Unbelebten, die Aeppli geschaffen hat. Und die in dem Metzer Kunsthaus einen würdigen, oft dramatischen, zuweilen aber auch verspielten Auftritt erleben.

Ausstellung „Le Musée sentimental d’Eva Aeppli“ bis zum 14. November. Geöffnet mittwochs bis montags von 10 bis 18 Uhr, am Wochenende bis 19 Uhr. Weitere Informationen unter www.centrepompidou-metz.fr/de.

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