Die „Saar-Franzosen“ leben in der Fremde

Blieskastel/Einöd/Hassel · Anfang September 1939 begann eine der großen Räumungsaktionen in vielen Orten und Dörfern in der Saarpfalz. Zwischen Einöd, Breitfurt, Ormesheim und Habkirchen wurden Tausende zwangsevakuiert. Sie lebten in der „Roten Zone“ – einem Kampfgebiet zu Frankreich hinter dem Westwall. In Teil 3 der Serie geht es um den „Alltag in der Fremde“.

 Zum Schutz der Bahnanlagen, hier auf der Strecke zwischen Zweibrücken und Einöd, wurden Männer zur „Bahnwacht“ eingezogen. Sie wurden während der Evakuierung von der Wehrmacht-Verwaltung als „unabkömmlich“ eingestuft. Foto: Bachmann/Ortsarchiv Einöd/Repro: Wolf

Zum Schutz der Bahnanlagen, hier auf der Strecke zwischen Zweibrücken und Einöd, wurden Männer zur „Bahnwacht“ eingezogen. Sie wurden während der Evakuierung von der Wehrmacht-Verwaltung als „unabkömmlich“ eingestuft. Foto: Bachmann/Ortsarchiv Einöd/Repro: Wolf

Foto: Bachmann/Ortsarchiv Einöd/Repro: Wolf

"Was wird aus meinem Haus, aus meinem Garten, was wird mit unserem Vieh passieren und mit unserer Ernte?" Dies bangen Fragen dürften sich nicht wenige Familien zwischen Einöd und dem Mandelbachtal in den Septembertagen des Jahres 1939 gestellt haben. Worte wie "Evakuierung, Freimachgebiete und Aufnahmegebiete" machten den Menschen große Angst vor der Reise "weit weg vunn Dehemm". Wohin die "Bliesmenger, Kaschdler, Enedder, Brewadder oder Aldemer" kamen, war den NSDAP-Verwaltungen schon Tage zuvor zugestellt worden. In Blieskastel hieß der Bürgermeister Julius Groß. Aus Unterlagen des Stadtarchivs geht hervor, dass "in Blieskastel zur Zeit der Evakuierung ein großes Durcheinander herrschte. Nur einige wenige Mitglieder der Stadtverwaltung blieben, um nach dem Rechten zu sehen", erklärt Stadtarchivar Kurt Legrum. In den "Aufnahmegebieten" (so der NS-Jargon) galten die Saarpfälzer als "Saar-Franzosen" oder "Stock-Franzosen." Waltraut Ehrmanntraut, geborene Pick, aus Einöd, ging in der Evakuierungszeit im nordpfälzischen Biedesheim in dortige Volksschule ("dort machte ich meinen Schulabschluss") und wurde dort auch konfirmiert. Ihre Schwester Hilde, getrennt von der Familie, musste ein Praktikum auf dem Ludwigshof am Rhein absolvieren. Erna Baars, Rentnerin aus St. Ingbert, berichtet davon, dass ihre Großmutter Katharina Sauer "unter gar keinen Umständen weit weg wollte". Sie hatte große Angst. Doch die Rentrischer mussten ebenso wie die Hasseler, Oberwürzbacher und Reichenbrunner nach Mitteldeutschland. Für Werner Pilhofer aus Webenheim waren "die Saarländer nicht überall ungebetene Gäste". Aus Erzählungen seiner Großeltern Ludwig und Jakobine Reitnauer und seiner Mutter Emilie Pilhofer, die in Weißdorf in Oberfranken evakuiert waren, gehe hervor, "dass dies vielleicht auch daran lag, dass sie in einer Gastwirtschaft und Metzgerei eingewiesen wurden". Und zu Hause? "Einige Bauern mussten als unabkömmlich hier bleiben, um für das Vieh und die Ernte zu sorgen,, sagt Jörg Metzinger aus dem nicht-evakuierten Oberbexbach, es lag in der "grünen Zone" - ein Landstrich in unmittelbarer Nähe zur "Roten Zone". Aber offenbar reichten die NSDAP-Pläne nicht, "denn bereits Anfang September fuhren Parteiwagen durch die Dörfer bei uns und suchten nach Melkern für die Kühe, die Tag und Nacht schrien". Seine Mutter Pauline habe sich gemeldet und sei regelmäßig mit anderen Frauen zum Kühemelken in die Wiesen zwischen Homburg und Blieskastel gefahren worden. > Nächster Teil folgt

"Für die Deutschen waren wir Franzosen und für die Franzosen waren wir Deutsche. Für meine Eltern und Großeltern war dieses Hin und Her schrecklich." Antoine Lacroix , ein "eschder Bitscher", blickt in die Ferne, als er dies erzählt. Und der Rentner weiß viel zu erzählen. Er ist mit ganzem Herzen ein "Sammler der Geschichte und Geschichten" im Bitscherland zwischen Volmünster, Eschviller Mühle und Bitche und darüber hinaus. Er ist Vorstandsmitglied der "Section du Pays de Bitche de la Société d'Histoire et d'Archéologie de Lorraine" (SHAL) - eine Organisation, die sich um die "fast unbekannte Histoire bei uns" kümmert. Er macht viele Informationsveranstaltungen und gilt als profunder Stadtführer. Er ist zudem in der dortigen "Soirée à L'ecole", ähnlich unserer Volkshochschule, als Dozent tätig.

"Die Menschen in Elsass-Lothringen wurden genauso evakuiert wie in anderen Regionen Frankreichs und in Teilen des Saarlandes", erzählt Lacroix und sagt: "Bei Euch gab es den Westwall, bei uns die Maginot-Linie, auf Französisch Ligne Maginot." Sie war ein aus einer Linie von Bunkern bestehendes Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien. Das System ist benannt nach dem französischen Verteidigungsminister André Maginot. Es wurde von 1930 bis 1940 gebaut, um Angriffe aus diesen Nachbarländern zu verhindern beziehungsweise abzuwehren. Bereits am 1. September 1939 mussten knapp 200 000 Menschen ihre Heimat in Richtung der Südwestküste Frankreichs verlassen. Dafür hatten sie 72 Stunden Zeit. All das geschah nahezu unbemerkt, denn die Augen der Welt richteten sich auf den Blitzkrieg im Osten. In Lothringen stieg die Zahl auf fast 300 000 Menschen an, ebenso viele im Elsass , davon allein 190 000 aus Strasbourg. Lacroix: "Die Dörfer waren alle leer, das Vieh irrte durch die Gegend. Das Vorgehen der französischen Regierung verwandelte die Städte und Dörfer in eine Geisterlandschaft. Die Evakuierung kam für viele Einwohner der betroffenen Dörfer und Städte überraschend. Bereits am 2. September 1939 zogen die ersten Flüchtlingsströme aus der Region Straßburg in Richtung Vogesen. Zurück blieben Soldaten in ihren Kasernen und städtische Bedienstete, die die Versorgung mit Strom und Gas gewährleisten sollten. Dieser "geisterhafte" Zustand blieb bis zur Besetzung der Gebiete im Juni 1940 durch die Wehrmacht bestehen. Wahrscheinlich sei die französische Regierung davon ausgegangen, dass die Menschen innerhalb des fünf Kilometer breiten Grenzstreifens entlang des Rheins und der Maginot-Linie sofort mit den Deutschen kollaborieren würden, meint er. "Schließlich gehörte Elsass-Lothringen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Deutschland. Ein großes Hindernis für unsere Evakuierten war auch, dass die Bevölkerung bei uns eher Deutsch als Französisch sprach. Kein Französisch in Frankreich verstehen, das war sehr schwer. Mir schwätze jo heit noch gut Deitsch."

Und dann erzählt Lacroix noch die Geschichte vom Ort Schorbach, der heute 600 Einwohnern zählt. "Schorbach war im Zweiten Weltkrieg ein Übungsplatz für deutsches Militär und wurde komplett zerstört. Der Ort hatte damals 1200 Einwohner. Nach dem Krieg kamen viele Einwohner nicht mehr zurück. Sie blieben in der Vendée, im Poitou- Charentes oder im Limousin."

 Evakuierte Kinder aus Einöd mussten, wie hier in Oberwarmensteinach bei Bayreuth, in die dortige Schule gehen. Foto: Linn/OA Einöd/ReproWolf

Evakuierte Kinder aus Einöd mussten, wie hier in Oberwarmensteinach bei Bayreuth, in die dortige Schule gehen. Foto: Linn/OA Einöd/ReproWolf

Foto: Linn/OA Einöd/ReproWolf

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HintergrundJosef Bürckel war nationalsozialistischer Gauleiter. Zwischen 1935 und 1936 war er "Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarlands", ab 1938 "Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich" und von 1940 bis 1944 "Reichsstatthalter der Westmark" mit Sitz in Saarbrücken sowie "Chef der Zivilverwaltung" in Lothringen . In seinem Auftrag wurde am 17. Mai 1939 eine "Erhebung zur Fläche, Haushaltungen und Wohnbevölkerung" in der Saarpfalz durchgeführt. Auf Grundlage dieses Verzeichnisses wurden Evakuierungstermine für die Städte und Orte und auch die Aufnahmegebiete für die Saarpfälzer exakt festgelegt und angeordnet. Die Saarpfälzer kamen nach Mittelfranken (Nürnberg und Umgebung), nach Ober-/Mainfranken (Bayreuth, Kulmbach, Bamberg, Steinach und Naila ), nach Sachsen und Thüringen (Aschersleben, Apolda, Erfurt, Saalfeld, Weimar, Sonneberg und Gotha), in die Oberpfalz (Marktredwitz, Tirschenreuth und Waldsassen), nach Hessen (Eschwege), in die Pfalz (Landstuhl und Kaiserslautern) und nach Rheinhessen (Alzey und Kirchheimbolanden). jkn

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