Zu Besuch in der Humanistenbibliothek in Sélestat Luthers Grammatikfehler im Elsass

Sélestat · Eine Perle der Nachbarn, die ziemlich unbekannt ist: die Humanistenbibliothek in Sélestat mit kostbaren Handschriften und Büchern.

Andächtige Stille herrscht im ehemaligen Kornhaus. Besucher beugen sich über Schaukästen. Auf feinem Tuch gebettet liegen darin Bücher in Leder. Ein besonderer Schatz der Humanistenbibliothek in Sélestat  ist die Wittenberger Ausgabe von Martin Luthers Abhandlung „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520. In dem gedruckten Brief an Papst Leo X. legt der Reformator seinen neuen Glauben dar, auf Latein. Mit roter Tinte hat Luther Anmerkungen an den Rand geschrieben. Daneben finden sich Vermerke in Schwarz – sie stammen von dem Philologen, Autor, Übersetzer und Herausgeber Bea­tus Rhenanus (1485-1547): Für eine 1521 in Basel geplante Neuausgabe korrigierte er grammatische Fehler.

Rhenanus, Schlettstadter Metzgersohn, schenkte der Stadt kurz vor seinem Tod seine Sammlung von Schriften und Büchern. Die 670 Bände und seine Korrespondenz mit Gelehrten in Europa bilden den Grundstock für die einzige größere, vollständig erhaltene Humanistenbibliothek. Seit 2011 Unesco-Weltdokumentenerbe, ist sie dennoch in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.

Heute zählt die Bibliothek rund 70 000 Bücher und Handschriften. Nach einem 1,4 Millionen Euro teuren Umbau präsentiert sich die zweigeschossige „Schatzkammer der Renaissance“ am Oberrhein seit einem Jahr in modernem Gewand. Neben den Originaldrucken von Bibeln, reformatorischen Schriften, Chroniken und mittelalterlichen Handschriften gibt es auch Computer-Touchscreens, an denen man in digitalisierten Seiten blättern kann. Im klimatisierten „Tresor“, dem Lesesaal, kann man unter Aufsicht gar einen Blick in berühmte Erstausgaben werfen. Die Bibliothek verwahrt eine von weltweit drei erhaltenen „Taufurkunden“ Amerikas – die Kosmographie Martin Waldseemüllers von 1507. In ihr wird erstmals der Name für den neu entdeckten Erdteil vorgeschlagen.

Daneben gibt es Werke von Rhenanus‘ Freund, dem Humanisten Erasmus von Rotterdam, oder auch ein liturgisches Lesebuch aus der Merowingerzeit im 7. Jahrhundert – das älteste Buch im Elsass. Die Humanistenbibliothek umfasst auch die ehemalige Pfarrbibliothek mit ihren Beständen der berühmten Lateinschule der einstigen freien Reichsstadt Schlettstadt. Aus ihr gingen im Mittelalter zahlreiche Beamte und Gelehrte hervor. Zwischen den großen geistigen Zentren Europas in Italien und in den Niederlanden bildete der Oberrhein eine Brücke. In Basel, Straßburg und Mainz befanden sich große Buchdruckereien, die das damalige Wissen verbreiteten.

„Junge Gelehrte aus ganz Europa tauschten sich aus“, sagt der Bibliothekar Laurent Naas. Ihr Ideal sei es gewesen, junge Leute zu aufgeklärten, freien und selbstverantwortlichen Menschen zu erziehen.  Sie übten auch Kritik an den Dogmen der Kirche und ihren Irrwegen – vor allem dem Ablasshandel.

Im frühen 16. Jahrhundert sei der Buchdruck am Oberrhein auch „ein Motor der Reformation“ gewesen, erzählt Bibliothekar Naas. Gerade heute wären in einem auseinanderstrebenden Europa mehr Frauen und Männer vom Schlage eines Beatus Rhenanus nötig, sinniert er: Gebildete Menschen auf der Suche nach Wahrheit und Wissen, „in einem Europa ohne Grenzen“.

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