Auf der Suche nach der ersten großen Liebe

Saarbrücken. "Das ist für mich der schönste Bahnhof der Welt", sagt Rudolf Strassner. Damit meinte der heute 85-jährige Komponist nicht unbedingt die Optik, wenngleich sich das Gebäude schmuckvoll im Hintergrund präsentiert. "Von hier aus durfte ich nach Hause fahren", erklärt er

 Sebastian Voltmer hielt mit der Kamera Rudolf Strassners Reise in die Vergangenheit fest. Foto: Heike Theobald

Sebastian Voltmer hielt mit der Kamera Rudolf Strassners Reise in die Vergangenheit fest. Foto: Heike Theobald

Saarbrücken. "Das ist für mich der schönste Bahnhof der Welt", sagt Rudolf Strassner. Damit meinte der heute 85-jährige Komponist nicht unbedingt die Optik, wenngleich sich das Gebäude schmuckvoll im Hintergrund präsentiert. "Von hier aus durfte ich nach Hause fahren", erklärt er. Ein Güterzug brachte ihn Ende 1948 aus der Kriegsgefangenschaft im Arbeitslager der russischen Stadt Brjansk zurück in seine Heimat. Nach über 60 Jahren wagte der Saarbrücker eine Reise in die Vergangenheit, bewegende Momente, die der saarländische Filmemacher Sebastian Voltmer mit der Kamera festhielt."Ein Klavier als Lebensretter", lautete im Oktober 2010 die Schlagzeile in der SZ, als Rudolf Strassner nach Jahrzehnten den Ort besuchte, an dem er von 1945 an als Kriegsgefangener schwere Baumstämme aus dem Fluss Desna ziehen musste. Eigentlich war es beschlossene Sache, dass er in ein sibirisches Arbeitslager verlegt wird. Doch es war die Leidenschaft zur Musik, die ihn davor bewahrte. In der Unterkunft des Arbeitslagers stand ein Klavier, Strassner durfte darauf spielen und berührte die Herzen der Lageraufseher. Mit Erlaubnis der Kommandantin gründete er ein Orchester und einen Chor, gab Konzerte. Die Musik war es auch, die ihn zu seiner ersten großen Liebe führte. Sie hieß Anuschka, war die Tochter eines Lageraufsehers und damit eine gefährliche Liebe, die geheim bleiben musste.

Erst mit seinem Besuch 2010 in Brjansk kamen viele Erinnerungen wieder hoch. Voltmer begleitete Strassner und hielt seine Reise in die Vergangenheit fest. Die Gebäude des ehemaligen Arbeitslagers stehen noch, und auch das lebensrettende Klavier fand Strassner wieder. "Das ist es, das ist das Klavier, auf dem ich spielte", sagt der Komponist mit bewegter Stimme und vor laufender Kamera. Das Klavier war noch da, aber was ist aus seiner verbotenen Liebe geworden? Helen Patton von der gleichnamigen Stiftung wurde auf das Schicksal des Saarbrückers aufmerksam, startete eine Initiative mit dem Ziel, die bürokratischen Hürden aus dem Weg zu räumen, um das Klavier in Strassners Heimat zu holen. Erika Freund und Roland Rohloff von der Stiftung Aktion Hilfe für Kinder organisierten den Transport. Die Stiftung kümmert sich in Brjansk um benachteiligte und kranke Kinder. Ein Team mit Helen Patton machte sich vor wenigen Wochen auf den Weg ins 2200 Kilometer entfernte Brjansk, mit dabei war wieder Voltmer mit seiner Kamera.

20 Stunden Filmmaterial hat der 30-Jährige bisher gesammelt, um daraus einen Kino-Film zu machen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Musik. Melodien, die Strassner während seiner Gefangenschaft im Kopf hatte und die jetzt erst zu Liedern komponiert wurden. Szenen im Film sind zufällige Ereignisse und Begegnungen, die vor zwei Jahren Strassners Erinnerungen wachriefen. "Wir hatten eine Autopanne, mussten in einer Werkstatt Reifen wechseln lassen", erklärt Voltmer. Als Strassner sich umschaute, hatte er das Gefühl, ganz in der Nähe des Flusses zu sein und genau an der Stelle, an der er die Baumstämme aus der Desna ziehen musste. Und sein Gefühl gab ihm Recht.

Zwei Jahre später nun tauchten Fotos von Anuschka auf. Sie soll leben, erfuhr das Team, aber wo? Im Film erinnert sich Strassner an den Tag seiner Heimreise. "Hier stand Anuschka und weinte", sagt der Saarbrücker und zeigt auf eine Stelle am Bahnhof, einige Meter weit weg von dem Gleis, wo der Güterzug wartete. Die Reise in die Vergangenheit ist längst nicht mehr die Suche nach dem Klavier, sondern die nach seiner Jugendliebe, meint Voltmer. Sie wieder zu sehen, darauf hofft Strassner. Und Voltmer hofft, dann seinen Film vollenden zu können.

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