Interview mit Michael Harz Auf der Jagd nach Gangstern in Nadelstreifen

Saarbrücken · Der Saarbrücker Wirtschaftsforensiker erzählt, wie er Wirtschaftskriminellen auf die Spur kommt und wie schwer es die Justiz hat.

 Michael Harz ist seit 1981 bundesweit als Wirtschaftsforensiker tätig. Seine wichtigsten „Kunden“ sind Gerichte und Staatsanwaltschaften.

Michael Harz ist seit 1981 bundesweit als Wirtschaftsforensiker tätig. Seine wichtigsten „Kunden“ sind Gerichte und Staatsanwaltschaften.

Foto: Rich Serra

Michael Harz ist auf der Jagd nach den Gangstern in Nadelstreifen. In akribischer Kleinarbeit durchforsten er und seine Kollegen Dokumente und Belege, um als Gutachter und Sachverständige die Grundlage dafür zu legen, dass Wirtschaftskriminelle hinter Gitter wandern. In diesem Interview beschreibt Harz, wie es dazu kam und wie Wirtschaftsforensiker arbeiten.

Sie nennen sich Wirtschaftsforensiker. Der Begriff ist doch eigentlich in der Rechtsmedizin oder als Teilgebiet der Psychiatrie bekannt, wo man sich mit der Behandlung, Begutachtung und der Unterbringung von psychisch kranken Straftätern befasst.

HARZ Das Wort Forensik kommt aus dem Alten Rom. Bei den Römern war der Marktplatz, das Forum, der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Dort wurden auch Gerichtsverhandlungen abgehalten. Deswegen ist alles, was mit Gerichtsbarkeit zu tun hat, Forensik.

Sie jagen Wirtschaftskriminelle. Unterscheiden diese sich von anderen Kriminellen, die beispielsweise einen Einbruch begehen oder einem anderen Menschen nach dem Leben trachten?

HARZ Die anderen kenne ich nicht so gut, um das sagen zu können. Wirtschaftskriminelle benutzen keine Revolver, um Taten zu begehen. Deren Werkzeug ist meist der Computer. Von den Charakteren her wundert man sich oft. Am Anfang kenne ich die Angeklagten nur aus den Akten. Dort liest man dann, was die so alles gemacht haben sollen. Wenn man dann die Leute zum ersten Mal im Gerichtsaal sieht, wundert man sich oft, ob der dort sitzende Angeklagte und die ihm zur Last gelegte Straftat überhaupt zusammenpassen.

Wie wird man Wirtschaftsforensiker? Gibt es dafür eine spezielle Ausbildung?

HARZ Ich bin promovierter Betriebswirt und kam zu dem Job durch meinen ehemaligen Partner, den Unternehmensberater Ernst Schneider. Wir hatten in den 1980er Jahren zusammen eine Beratungsgesellschaft. Irgendwann kam der Ernst zu mir ins Büro und eröffnete mir, dass ich am nächsten Tag einen Termin bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken hätte. Sie bräuchten eine Geldfluss-Rechnung, und da ich bei uns der Zahlenmensch war, hat er mich empfohlen. Damals sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen leibhaftigen Staatsanwalt. Ich hatte auch noch nie eine Geldfluss-Rechnung aufgestellt. Ich habe dann zwei Jahre daran herumgebastelt. Heraus kam ein Gutachten von 1700 Seiten. Es ging um eine Bauträger-Firma, deren Inhaber die Bauherren im großen Stil betrogen hatten. Schon am ersten Verhandlungstag legten alle vier Angeklagten ein Geständnis ab. Der Staatsanwalt erzählte mir, dass diese Verhandlung ohne mein Gutachten anders gelaufen wäre. Die Verteidiger hatten meine Expertise gelesen und gemerkt, dass ihre Mandanten aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen und ihnen empfohlen zu gestehen.

Wie ging es weiter?

HARZ Dieser Staatsanwalt hat dann auf einer Juristentagung seinen Kollegen von dieser Geschichte erzählt. Und so bekam ich plötzlich Aufträge aus ganz Deutschland. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich musste meine Beratertätigkeit aufgeben und habe mich seitdem darauf spezialisiert.

Wie viel Jagdinstinkt muss ein Wirtschaftsforensiker haben?

HARZ Wir sind nicht wie im Krimi hinter den Leuten her. Unsere Tätigkeit ähnelt der eines Wirtschaftsprüfers. Man ist bei Durchsuchungen dabei, und die Kripo übergibt dann Berge von Akten. Diese muss man durchforsten, was eine akribische Arbeit ist. Mann muss Buchhaltungen und Belege prüfen, plausibilisieren, was passen könnte und was nicht, Proberechnungen machen. Wenn es um Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung geht, muss man den Liquiditäts- und Überschuldungs-Status sowie Finanzpläne erstellen. Das ist eigentlich eine ziemlich trockene Geschichte und längst nicht so spannend, wie viele glauben. Wir sind auch keine Detektive, die mit einem Fernglas hinter irgendeiner Hecke stehen und Wirtschaftskriminelle beobachten.

Wie lange dauert es, bis ein solches Gutachten fertig ist?

HARZ Die Zeitspanne reicht von einigen Wochen bis zu ein paar Monaten. Danach bereitet der Staatsanwalt die Anklage vor. Zu der Gerichtsverhandlung werde ich oder einer meiner Mitarbeiter geladen. Wir als Sachverständige unterstützen das Gericht bei der Wahrheitsfindung.

Fließen Ihre Argumente auch in die Anklageschrift ein?

HARZ Der Staatsanwalt übernimmt oftmals ganze Passagen des Gutachtens in die Anklageschrift. Wenn es zum Beispiel bei einer GmbH um Insolvenzverschleppung geht, muss der Staatsanwalt detailliert darlegen, wann zum Beispiel die Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist. Dies entnimmt er dann dem Gutachten.

Was sind denn die üblichen Straftatbestände?

HARZ Das Thema Wirtschaftskriminalität ist ja nicht exakt definiert. Es sind laut Gerichtsverfassungsgesetz verschiedene Delikte, die dazu gezählt werden. Das ist zum einen der Anlagebetrug. Das sind zum Beispiel Leute, die hohe Renditeversprechen abgeben, die sie jedoch nicht halten können. Allerdings nimmt die Zahl der Anlagebetrugs-Delikte ab, weil mittlerweile auch der Blödeste gemerkt hat, dass zehn oder 20 Prozent Rendite auf Dauer unrealistisch sind. Dann gibt es Finanzierungsdelikte wie zum Beispiel Kreditbetrug. Hierbei geht der Unternehmer oder Geschäftsführer mit nicht ganz korrekten Bilanzen zur Bank und bekommt von dieser einen Kredit. Es gibt Studien von renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die besagen, dass 30 bis 50 Prozent aller Bilanzen manipuliert sind. Ich schüttele darüber immer den Kopf und sage, dass 80 bis 90 Prozent aller Bilanzen frisiert sind. Das hängt allerdings von bestimmten Rahmenbedingungen ab. Bei großen Aktiengesellschaften, bei denen es Aufsichtsgremien gibt und das Management sowie die Eigner verschiedene Personen oder Gremien sind, ist die Wahrscheinlichkeit einer Manipulation gering.

Wo ist die Wahrscheinlichkeit hoch?

HARZ Stellen Sie sich bitte ein mittleres inhabergeführtes Unternehmen vor, das seit Jahrzehnten den gleichen Steuerberater hat. Die Firma hat ein supertolles Ergebnis eingefahren. Der Unternehmer hat aber nicht die Absicht, davon einen großen Teil dem Finanzamt abzugeben. Durch die Neubewertung der Warenbestände kann dieses Ergebnis spürbar reduziert werden, so dass die Steuerschuld sinkt. Die andere Variante ist, dass es dem Mittelständler, der seinen Steuerberater schon genauso lange kennt, richtig dreckig geht. Jahr für Jahr schiebt er Verluste vor sich her. Mit seinem Steuerberater stimmt er überein, dass man mit den Zahlen bei der Bank keinen Kredit mehr bekommt. Dann werden die Bilanzen schöner gemacht, und mit diesen aufgehübschten Zahlenwerken bekommt man auch wieder Geld bei der Bank. Genau das ist Kreditbetrug.

Wie oft kommt so etwas ans Tageslicht?

HARZ Das wird relativ selten aufgedeckt. Wir haben zusammen mit ehemaligen Wissenschaftlern des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) jedoch eine Software entwickelt, die es ermöglicht, innerhalb von wenigen Minuten festzustellen, ob eine Bilanz, die Buchhaltung oder der Jahresabschluss manipuliert sind. Über diese Software, die den Namen Bil-Man trägt, haben wir etwa 8000 Jahresabschlüsse laufen lassen. Die Software erkennt auf der Basis von Künstlicher Intelligenz (KI), ob bestimmte Fälschungsmuster sich wiederholen. Wir haben rund 40 dieser Muster in Bil-Man eingepflegt und wenn mehrere von ihnen in der Bilanz, Buchhaltung oder Jahresabschluss von dieser KI erkannt werden, können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass hier eine Manipulation vorliegt. Die Software kann auch eingrenzen, wo manipuliert wurde – ob beim Anlagevermögen, bei den Kreditoren oder Debitoren. Wir spüren damit auch auf, wenn größere Vermögenspositionen verschoben wurden, was vor allem Insolvenzverwalter interessiert.

Welche weiteren Schwerpunkte haben Sie?

HARZ Ein weiteres Feld sind Insolvenzdelikte. Dies sind nach wie vor die häufigsten Straftaten. Viele davon werden gar nicht entdeckt. Denn eine solche Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung wird lange unter der Decke gehalten. Das geht auch eine ganze Zeitlang gut, wenn beispielsweise Lieferanten oder Subunternehmer immer wieder vertröstet werden, obwohl die Gelder schon lange fällig wären. Viele Lieferanten haben auch eine gewisse Geduld, weil sie ja ihre Kunden nicht verlieren wollen. In einer von uns intern erstellten Mini-Studie haben wir herausgefunden, das vom Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bis zum Insolvenzantrag im Durchschnitt 14 Monate vergehen. Zu den Insolvenzdelikten gehören auch der betrügerische Bankrott oder wenn eine Bilanz zu spät oder nicht erstellt wurde.

Was noch?

HARZ Ein anderer wirtschaftskrimineller Tatbestand sind Wettbewerbsdelikte. Hierunter fällt das Thema Plagiate. Wenn Sie in Mallorca eine Louis-Vuitton-Tasche für 20 Euro kaufen, dann ist das noch keine Wirtschaftskriminalität. Wenn Sie aber hier einen schwunghaften Handel damit aufmachen, dann schon. Oder das Ausspähen von Betriebsgeheimnissen beziehungsweise Wirtschaftsspionage, was eine unheimlich schnell wachsende Geschichte ist. Die Schäden im Bereich der Wettbewerbsdelikte sind so hoch, das man sie nicht vernünftig quantifizieren kann. Sie sind einfach gigantisch.

Wie hoch sind die Schäden, die Wirtschaftskriminelle verursachen, im Vergleich zu anderen Delikten?

HARZ Im gesamten Bereich der Wirtschaftskriminalität werden Schätzungen zufolge weniger als fünf Prozent der Straftaten aufgedeckt. Von der Gesamt-Kriminalität macht die die Wirtschaftskriminalität lediglich 1,3 bis 1,4 Prozent aus. Sie verursacht aber 55 Prozent der gesamten Schäden aller Straftaten. Diese Relation ist einfach irre. Das meiste bleibt leider unter der Decke. Das muss man einfach so sehen.

Woran liegt das?

HARZ Das hängt auch damit zusammen, dass die meisten Strafverfolgungsbehörden einfach mehr Geld benötigen, um die Wirtschaftskriminalität adäquat ahnden zu können. Zu mir hat einmal ein Staatsanwalt gesagt: „Herr Harz, eigentlich sitzen wir hier auf dem Fahrrad und versuchen, einen Porsche zu verfolgen.“ Die Strafverfolgungsbehörden haben eine hohe Kompetenz, finanziell sind ihnen aber die Hände gebunden. Außerdem wird die Wirtschaftskriminalität immer internationaler. Die Behörden können zwar auch länderübergreifend agieren, sind im Vergleich zu den Tätern aber viel langsamer. Die Straftaten werden zudem komplexer. Die Anforderungen, die an uns gestellt werden, steigen ständig. Das hat auch Auswirkungen auf meine Mitarbeiter, die sich laufend weiterbilden müssen. Wir müssen schneller und besser werden, um dauerhaft überhaupt eine Chance zu haben.

Welche Rolle spielt inzwischen eigentlich die IT bei Ihrer Arbeit?

HARZ Das beginnt schon bei den Durchsuchungen. Wir spiegeln Festplatten, denn immer häufiger gibt es die Buchführung nur noch in elektronischer Form. Es kommt auch schon vor, dass Festplatten gelöscht sind. Wir haben aber Fachleute, die in der Lage sind, die Daten wieder sichtbar zu machen und sie so aufzubereiten, dass wir ein Gutachten erstellen können. Ferner sind wir mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz in der Lage, mit Worterkennungs-Software einzugrenzen, wann eine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist. Wir prüfen vollautomatisch den gesamten E-Mail- und Schriftverkehr eines Unternehmens. Wenn dann Worte wie Mahnung, Zwangsvollstreckung oder Kündigung als Reizworte zunehmen, kann der Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit eingegrenzt werden.

Ist Wirtschaftskriminalität eher männlich geprägt oder sind auch Frauen dabei?

HARZ Wirtschaftskriminalität ist schätzungsweise in 95 Prozent der Fälle männlich.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

HARZ Es mag eine Rolle spielen, dass die meisten Geschäftsführer Männer sind. Doch ansonsten – keine Ahnung.

Welche Rolle spielt die Konjunktur? In guten Zeiten kommen Insolvenzen seltener vor, können also auch seltener verschleppt werden.

HARZ Der Höhepunkt bei den Insolvenzdelikten lag im Jahr 2004, als wir 39 000 Unternehmens-Insolvenzen in Deutschland verzeichneten. Das ist auf knapp 21 000 gesunken. Damit hat auch die Zahl der Delikte abgenommen.

Aber Ihnen geht die Arbeit nicht aus?

 Im Gespräch mit SZ-Redakteur Lothar Warscheid (r.) zählt Michael Harz auch die Schäden auf, die Wirtschaftskriminelle verursachen.

Im Gespräch mit SZ-Redakteur Lothar Warscheid (r.) zählt Michael Harz auch die Schäden auf, die Wirtschaftskriminelle verursachen.

Foto: Rich Serra

HARZ Nein, gewiss nicht.

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