Angekommen in der neuen Heimat

Neunkirchen · Im Rückblick liest sich die Flucht der Sheikhos aus Aleppo wie eine Abenteuergeschichte. Seit Oktober sind sie in Neunkirchen. Nun gilt es, hier die größte Hürde zu meistern – die Sprachbarriere.

 Haura Dheini (rechts) vom Dolmetscherpool der Kreisstadt hilft der syrischen Flüchtlingsfamilie Sheikho mit ihren Kindern Deljan (4) und Arjan (7) beim Eingewöhnen in Neunkirchen. Foto: Willi Hiegel

Haura Dheini (rechts) vom Dolmetscherpool der Kreisstadt hilft der syrischen Flüchtlingsfamilie Sheikho mit ihren Kindern Deljan (4) und Arjan (7) beim Eingewöhnen in Neunkirchen. Foto: Willi Hiegel

Foto: Willi Hiegel

Wenn Arjan und Deljan das Wort "Zug" hören, gehen sie in Abwehrstellung. "Nein, wir wollen nicht mehr flüchten, wir haben keine Lust mehr", protestieren dann der Siebenjährige und der Vierjährige, berichtet Haura Dheini vom Dolmetscher-Pool Neunkirchen. Die Libanesin, die seit 26 Jahren in Deutschland lebt, übersetzt für die SZ ein Gespräch mit der Familie Sheikho aus dem Arabischen. Hassan Sheikho und seine Frau Kawathar Issa (beide 31 Jahre alt) haben mit ihren beiden Söhnen nach einer mehr als halbjährigen Odyssee, die in der Millionenstadt Aleppo begann, in der saarländischen Kreisstadt Neunkirchen Anker geworfen. Sie waren im Oktober die ersten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, die in Neunkirchen eintrafen.

Die Kinder schützen

Die Sheikhos gehören zu sechs oder sieben Millionen Syrern, die der gnadenlose Bürgerkrieg im Land entwurzelt hat. Zwei Millionen hat es über die Landesgrenzen getrieben, mehr als doppelt so viele sind innerhalb des Staates auf der Flucht. "Ich wollte das Leben meiner Kinder nicht riskieren", begründet Kawathar Issa den Entschluss der Familie, ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren. Sie habe mitansehen müssen, wie Milizen in ihren Wohnblock eindrangen und vor ihren Augen einen Mann erschossen. Das Haus zu verlassen, sei angesichts der allgegenwärtigen Heckenschützen auf den Dächern hochriskant gewesen. Und das Militär habe ständig brutale Luftangriffe geflogen. "Es gab 50 bis 60 Tote pro Tag", versichert das Ehepaar.

"Aleppo ist eine der schönsten Städte Syriens", bedauert Kawathar die Zerstörungen. Unter anderem sei der älteste Basar in Syrien jetzt eine Ruine. Ob das Haus, in dem sie gewohnt haben, noch steht, wissen sie nicht. Ihr Wohnviertel sei zuletzt eine Geisterstadt gewesen. Ihre Habseligkeiten seien geplündert worden, haben sie nach ihrer Flucht noch erfahren, dann riss der Kontakt ab. Auch der zu Kawathars Eltern, die in der Umgebung von Aleppo leben.

Die mit 1,7 Millionen Einwohnern (vor der Fluchtwelle) zweitgrößte Stadt Syriens nach der Hauptstadt Damaskus liegt im Nordosten des Landes und ist eine Hochburg der syrischen Kurden. Die Kurden machen etwa zehn Prozent der vor dem Bürgerkrieg knapp 21 Millionen Syrer aus. Auch Hassan und Kawathar gehören dieser Ethnie an. Er ist, wie die meisten Kurden, sunnitischer Moslem, sie gehört der seltener vertretenen Religion der Jesiden an.

Die Sheikhos sympathisierten nach eigenen Angaben mit keiner der Kriegsparteien, verhielten sich neutral. "Wir wollten nur leben", sagen sie. Und deshalb setzte die vierköpfige Familie Ende März dieses Jahres ihren Entschluss in die Tat um, dem Krieg zu entrinnen - nur mit dem Notwendigsten versehen. Die Schilderung ihrer Flucht durch Kleinasien und halb Europa klingt abenteuerlich und gefährlich:

Zunächst ging es nachts um 4 Uhr mit dem Taxi zum Städtchen Afrin an der Grenze zur Türkei. Nach zwei Stunden Fußweg durch die Wälder (Hassan: "Um diese Zeit schlafen die Grenzposten meistens") wurde die türkische Stadt Kilis erreicht.

Von Kilis aus ging es mit dem Bus nach Izmir, wo die Familie bei Verwandten unterkam. Zweieinhalb Monate hielt man sich dort mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Dann zeigten Bekannte einen Fluchtweg nach Griechenland auf.

Ein Flug wäre unerschwinglich gewesen, deshalb gab man einem Schleuser 4500 Euro für eine Schiffspassage. Die angekündigte "Yacht" erwies sich als offenes, schwach motorisiertes Schlauchboot, in das Familie Sheikho mit 19 jungen Männern stieg. Als dann auf offenem Meer die griechische Küstenwache aufkreuzte, schlitzte einer der Schleuser das Boot kurzum auf. Nach eindringlichen Verhandlungen nahmen die Griechen die vom Ertrinken Bedrohten an Bord. Nach einem Zuständigkeitsstreit zwischen türkischen und griechischen Behörden wurden sie zur kleinen griechischen Insel Ramos gebracht.

Auf Ramos, sagen die Sheikhos, wurden sie sehr menschlich behandelt. Frauen und Kinder wurden in einer Kirche, die Männer in einem Lager untergebracht. Als sie signalisierten, nicht in Griechenland bleiben zu wollen, stellten ihnen die griechischen Behörden ein Aufenthaltsdokument für ein halbes Jahr aus.

Damit machte sich die Familie auf nach Athen zu weiteren Bekannten und erkundete weitere Fluchtwege nach Deutschland. Denn dies war von Anfang an ihr Ziel. "Wir haben immer gehört: In Deutschland werden die Menschenrechte geachtet und man wird gut behandelt", begründen dies Hassan und Kawathar.

Der nächste Schritt: Man kaufte sich bei Schleusern für eine Überfahrt nach Italien ein. Für 8000 Euro - die Sheikhos investierten für ihre Flucht nicht nur ihre Ersparnisse, sondern mussten auch noch Schulden bei Verwandten machen. Dann der Schock: Als die Yacht mit 45 Flüchtlingen an Bord italienische Hoheitsgewässer erreichte, schaltete der Kapitän den Motor ab und machte sich aus dem Staub. Einem der Passagiere gelang es, so schildern die Sheikhos weiter, das Boot wieder in Gang zu bringen. Man schipperte dann drei Tage ohne Wasser und Nahrung auf dem Meer herum, bevor man irgendwo an der italienischen Küste strandete.

Es folgte eine förmliche Festnahme durch die Polizei und die Unterbringung in einem kleinen italienischen Dorf. Auch hier gute Erfahrungen: Die Bevölkerung, besonders auch der Pfarrer, hätten sich engagiert um die Ankömmlinge gekümmert, berichten die Geflüchteten. Als dann nach zehn Tagen die Polizei darauf drängte, dass sie Asyl beantragen, setzte sich die Familie ab - mit der Bahn zu Freunden in Mailand.

Von der norditalienischen Metropole aus blieb man immer auf der Schiene: Zunächst nach Nizza und Marseille, dann quer durch Frankreich nach Straßburg und dort in den Zug nach Saarbrücken. Die Flucht endete, wie sie angefangen hatte: im Taxi. Diesmal vom Saarbrücker Bahnhof zum Flüchtlingsaufnahmelager Lebach, das ihnen von dort zuvor schon eingetroffenen Freunden aus Aleppo als Anlaufstelle genannt worden war.

Von Lebach nach Neunkirchen

Am 5. September meldete sich die Familie Sheikho bei den Behörden in Lebach, nach 28 Tagen im Lager wurde sie dann dem Landkreis Neunkirchen zugeteilt. Mit der Wohnung in der Friedensstraße, die ihr die Stadt Neunkirchen zugeteilt hat, ist sie sehr zufrieden. Auch von der Stadt hätten sie einen guten Eindruck, sagen sie.

Die Hektik der Flucht hat einem Gefühl der Erleichterung Platz gemacht.

Nun gilt es die hohen Sprachbarrieren - die Familie spricht nur arabisch und kurdisch - zu überwinden. Nach Sprachkursen möchten Hassan und Kawathar arbeiten - er am liebsten in seinem angestammten Beruf als Florist, sie vielleicht als Dolmetscherin. Der ältere Sohn Arjan besucht bereits die Parkschule.

Die Sheikhos gehen davon aus, dass sie in Deutschland bleiben. "Syrien wird nach dem Krieg nicht mehr das Land von früher sein", sagt Kawathar. Und das allerwichtigste sei für sie die Zukunft ihrer Kinder.

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