Russisches Pathos im Elsass

Colmar · Die meisten Festivals erfinden sich immer wieder neu. Beim 26. Internationalen Musikfestival in Colmar, das gestern zu Ende ging, hat man dagegen auf Bewährtes gesetzt – eine gute Idee?

Das Konzept, das der künstlerische Leiter Vladimir Spivakov bei seinem Amtsantritt 1989 entwickelt hat, ist heute noch nahezu unverändert: Ein Schwerpunktthema, einem Komponisten oder Interpreten gewidmet, ist der rote Faden; jeden Tag gibt es zweimal Kammermusik und ein großes symphonisches Konzert in der Kirche St. Matthieu, bei dem meist das von Spivakov selbst geleitete Residenzorchester - die Russische Nationalphilharmonie aus Moskau - Schwergewichte des Repertoires spielt. Die Preise sind niedrig, die Kleidung eher leger - nur junge Zuhörer sind wenige zu sehen. Es gibt keine Werkeinführungen und keine Programmtexte. Vermittelt wird nichts - das Festival vermittelt sich selbst.

In diesem Jahr hat sich Colmar dem russischen, 2002 verstorbenen Dirigenten Evgeny Svetlanov gewidmet. Da sich Svetlanov in der Sowjetunion auch für die Werke von Gustav Mahler eingesetzt hatte, programmierte Spivakov mit seinem Orchester auch einen Mahlerabend. Und hat mit dem deutschen Bariton Matthias Goerne für die Kindertotenlieder einen erfahrenen Interpreten engagiert. Spivakovs Interpretation profitiert davon. Mit seinem exzellent besetzten Orchester schafft er eine transparente Grundlage, auf der Goerne seinen mächtigen Bariton beim Lied "Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen" zu intimem, warmem Klang destilliert.

Mit Mahlers 1. Symphonie können Spivakov und die Russische Nationalphilharmonie hingegen weniger anfangen. Die Kontraste, die Mahler liebt, sind nicht zu hören. Dass die Interpretation trotzdem an Gestaltungskraft gewinnt, liegt an den fulminanten Blechbläsern, die den Choraldurchbruch im Finale regelrecht inthronisieren.

Colmar ist auch ein Ort, junge Talente zu entdecken: etwa den russischen Cellisten Pavel Gomziakov, der mit der Pianistin Vanessa Wagner beim intensiven Mittagsrezital im Koifhus begeistert hat. In Brahms' E-Moll-Sonate beeindrucken sie durch vollendetes Zusammenspiel. Den zweiten Satz von Schostakowitschs Cellosonate op. 40 platzieren sie schlüssig zwischen motorischer Unerbittlichkeit und unwiderstehlichem Charme.

Russisches Repertoire prägt auch das Abendkonzert. Evgenys Svetlanovs eigene Russische Variationen für Harfe (Ilona Nokelainen) und Orchester lassen wohlige Harfen-Arpeggien auf einstimmig agierende Streicher treffen. Zum Höhepunkt wird Boris Giltburgs brillante Version von Rachmaninows zweitem Klavierkonzert, bei dem Solist und Orchester sich perfekt verbinden. Pathos und große Geste - auch das ist Rachmaninow.

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