Rückschritt in die Vergangenheit

Freitagnachmittags setzt in Deutschland eine weithin unbeachtete Massenflucht ein. Banker, Buchhalter und Beamte streifen mit ihren Anzügen und Businesskostümen auch ihr Büro-Ich ab und werden Ritter, Gaukler, hohe Dame oder Indianer. Auch historische Uniformen sind hoch im Kurs. Vor allem das Mittelalter aber scheint, wie schon im 19. Jahrhundert, erneut Sehnsuchtszeit der Deutschen zu sein

Freitagnachmittags setzt in Deutschland eine weithin unbeachtete Massenflucht ein. Banker, Buchhalter und Beamte streifen mit ihren Anzügen und Businesskostümen auch ihr Büro-Ich ab und werden Ritter, Gaukler, hohe Dame oder Indianer. Auch historische Uniformen sind hoch im Kurs. Vor allem das Mittelalter aber scheint, wie schon im 19. Jahrhundert, erneut Sehnsuchtszeit der Deutschen zu sein. Kaum ein Ort mit ein paar Steinbrocken, die man Burgruine rühmen könnte, der an einem Sommerwochenende nicht einen mittelalterlichen Markt oder ein Ritterturnier böte. Und Andrang ist garantiert. Tausende lassen sich locken, tauchen ab in die Vergangenheit. Für die Besucher, die im Top- und T-Shirt-Dress des 21. Jahrhunderts bleiben, oft bloß die pittoreske Alternative zu modernen Festgelagen. Bemerkenswerter da schon jene, die sich selbst zum mediävalen Schaustück machen, Ritter werden, Schmied oder Gaukler. Sie leben Vergangenheit - living history als Freizeitvergnügen. 5000 Reenactment-Gruppen, die Historie möglichst unverfälscht nachstellen wollen, soll es in Deutschland geben. Wobei viele davon eher für sich bleiben, ihre Geschichtswerkstatt nicht öffnen. Klar ist aber, wer tagelang barfuß und in grobem Tuche sich Wind und Wetter aussetzt, hat neben einem neuen Geschichtsverständnis auch ein anderes Naturerleben als der Jetztzeitmensch. Der Zeitenwechsel wird meist wohl organisiert: Viel Geld wird in Kostüme, Kettenhemden, in perfekt kopierte Waffen investiert. Eine ganze "vorindustrielle" Industrie hat sich entwickelt - und macht ihr Geschäft mit der Geschichte. So staunt man nicht schlecht, wenn einem ein Bogenmacher berichtet, wie gut er lebt - von seinen nach Originalvorbildern gefertigten englischen Langbögen, einst der Schrecken der Franzosen im Hundertjährigen Krieg. Bis zu 500 Euro legen Mittelalterfans dafür hin. Da kommt dann schnell mehr zusammen, als für pure Verkleidungslust zu zahlen wäre. Doch das Vergangenheitserleben potenziert wohl das Interesse an der Geschichte zum Erlebnis mit allen Sinnen. Wer das Nibelungen-Epos, Erec, Tristan liest, erschafft sich diese Welt lediglich in der Fantasie. Und Robin Hood, in einer der dutzenden Verfilmungen zu sehen, ist flüchtiger als tatsächlich die Schwere eines Schwertes in der Hand zu spüren oder zu erfahren wie viel Mühe es kostet, sich einen Speisebrei herzurichten. Dies gleich als Flucht aus der Gegenwart zu deuten, geht wohl fehl. Gewiss aber ist die Welt eines nachempfundenen Mittelalterlagers überschaubar. Dieser kleine Kosmos hat Grenzen. Das Unwägbare, das Unkalkulierbare des wirklichen, heutigen Lebens, die als chaotisch empfundenen Auswüchse globaler Lebensformen, die vielen Angst machen, wird ersetzt durch eine übersehbare Welt, in der man durch eigenes Tun noch etwas zu ändern vermag, sein Leben wieder selbst bestimmt. Vielleicht aber hilft ja auch der Rückschritt in die Vergangenheit bloß seinen Standpunkt im Heute zu finden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort