Requiem für alle Soldaten

Saarbrücken · Hart geht es zu in „Front“, einem Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters, das das Saarbrücker Staatstheater zusammen mit den Perspectives finanzierte. Das Publikum lernte Luc Perceval kennen, einen Regisseur von Weltrang. Es reagierte am Donnerstag tief beeindruckt.

 Bedrückend stark: „Front“, Luc Percevals Erinnerungsstück zum Ersten Weltkrieg, gastierte in Saarbrücken. Foto: Oliver Dietze

Bedrückend stark: „Front“, Luc Percevals Erinnerungsstück zum Ersten Weltkrieg, gastierte in Saarbrücken. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Es gibt keine Stille an der Front. Aber wie klingt der Krieg? Es grollt und rasselt, es grummelt, quietscht, ächzt, scheppert und zischt. Wir trauen unseren Ohren nicht, wenn sich dieses Gebrüll des Untergangs im Staatstheater zu einer Art gespenstischem Glocken-Dröhnen summiert. Ferdinand Försch hat es komponiert, er ist in der "Front"-Produktion des Thalia Theaters der Live-Klang-Meister. Die Bühnenrückwand der in Finsternis brütenden Spielfläche besteht aus Stahl-Platten, die Försch bearbeitet, bis sie aufstöhnen. Ein Klang-Kollektiv des Erduldens. Das passt zu Luc Percevals Sicht auf den Ersten Weltkrieg. Es gibt in "Front" keinen einzigen Verweis auf die "große" Weltpolitik, keinen Kaiser, keinen Schlieffenplan, kaum Orts- oder Zeitangaben, sondern nur den brutal banalen, brutal quälenden Soldatenalltag: Schlammwaten, Rattenjagen, dem elenden Krepieren Zusehen. Im Stellungskrieg 1914/18 verwandelte sich der aktive heroische Krieger in einen Dulder. Diese Erkenntnis ist nicht neu, auch nicht die detailgenauen Schilderungen von Kriegsverstümmelungen: Gesichter ohne Unterkiefer, splitternde Beinstümpfe, aus Bäuchen quellende Därme. Man kennt dies alles aus Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" oder aus Henri Barbusses "Le Feu". Müssen wir das alles noch mal hören? Müssen wir. Perceval hat Episoden und Figuren dieser Romane mit Originalzitaten aus Feldpost-Briefen zu einem brüchigen, spröden neuen Ganzen gefügt - es wird zu einem Abend mit Intensität und Wucht.

Fremd und entrückt bleiben uns die einzelnen Figuren, nicht ihr Leid. Eine Mutter verliert den Verstand: Vier Söhne sind gefallen. Dann wird Tochter Marie todkrank. Zwei Stunden nach ihrer Beerdigung fliegt ihr Sarg bei einer Detonation in die Luft. Wir schütteln den Kopf über die fürsorglich-beschwichtigenden Lügen, die die Soldaten nach Hause senden: Macht Euch nur keine Sorgen! Und uns stockt der Atem ob ihres letzten Wunsches: Einmal noch im eigenen Bett schlafen. Welch ein monströser Verlust an Geborgenheit.

Doch "Front" ist kein pazifistisches Agitprop-Stück. Perceval komponiert dichte Bilder. Die Darsteller stehen wie Statuen oder hocken auf Bierkästen und monologisieren, mancher verstümmelt die Worte, wie wir es von Gehörlosen kennen. Dann drehen sie sich - hilflose Kreisel - mit ausgestreckten Armen wie Derwische um sich selbst. Urgewalten treiben sie an, etwas für sie Undurchschaubares. Wir fühlen uns zurückversetzt in die Antike. Denn Perceval lässt alles Geschehen ausschließlich über Sprache transportieren. Das ist sehr pur - und wirkmächtig. Denn im Kopf läuft ein aufwühlender Film ab. Selbst die gigantischen Soldaten-Porträts auf einer Leinwand übernehmen keine Abbild-Funktion, sondern verschwimmen ins Kosmische, weil Regen oder Wolken sie überschwemmen. Keine Kino-Illusion also, nirgends.

Gesprochen wird in vier Sprachen, das macht die Sache noch strapaziöser, aber auch Percevals Botschaft klarer. Er kennt keine Nation und keine Schuldfrage, hört nur einen gemeinsamen Schmerzensschrei. Der zerrt an unseren Nerven. "Front" ist ein Abend mit Längen, aber ohne Schwächen.

Karten für die letzten Aufführungen/Konzerte: ticket@festival-perspectives.de

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