Politisch so unkorrekt, dass die Fetzen fliegen

Der Diogenes-Verlag ließ sich einige Jahre Zeit, Arnon Grünbergs neuen Roman „Der jüdische Messias“ herauszubringen. Kaum überraschend, denn der niederländische Romancier hat den Tabubruch perfektioniert.

Keine Seite, es sind mehr als 600, in diesem Roman ist langweilig. Sogar die klein gedruckte Anmerkung nach seinem Ende ist bemerkenswert: "Der Verlag dankt den Erben A. Hitler für die freundliche Genehmigung zum Zitieren von Fragmenten aus Mein Kampf, München 1939. Übersetzung ins Jiddische: Willy Brill." Arnon Grünberg, der fintenreiche, in New York lebende niederländische Romancier, dessen Eltern vor den Nazis fliehen mussten, um zu überleben, ist politisch unkorrekt, dass die Fetzen fliegen. Wieder treibt er seine gebeutelten Protagonisten in absurde Situationen, die sie lädiert verlassen. Mindestens. Sie sind die Nachgeburt des 20. Jahrhunderts, die Lethargie und Ironie ihrer Zeit hinter sich lassen wollen. Sie pflegen seltsame Passionen, was ihnen das Leben ganz allgemein und den Umgang mit dem anderen Geschlecht im Besonderen nicht leichter macht.

Xavier Radek zum Beispiel verliert seine Unschuld an Bettina aus Graubünden. Die lässt sich ihren karitativen Einsatz vergelten, indem sie ihre Gespielen zu Investitionen in Entwicklungshilfeprojekten animiert. Xavier hat zwei am Hals, da ist er noch nicht volljährig. Dann trifft er Awrommele, eines der vielen Kinder des Rabbiners von Basel, und weiß fortan, dass seine sexuellen Neigungen dem eigenen Geschlecht gelten. Und Awrommeles Volk. Vom Rabbiner indes lernt er darüber nicht viel, denn der ist ein getürkter Hedonist. Nachdem die Heiratsvermittlung gescheitert ist, hat er sich für diesen Job entschieden. Der ist lukrativ, weil sich hier mehr als die eigene Ehe veruntreuen lässt. Derweil wird für seine Frau die Küchenwand zur Klagemauer.

Xavier wiederum hat von seinem Großvater gelernt, dass man einer Sache auf Ehre und Treue dienen muss. Er war ein Kämpfer in den Reihen der SS, nun will es der Enkel ihm nachtun und findet in Awrommele zum Zionismus. Die kultiviert schweigenden Eltern schieben es auf die Pubertät, doch im Sohn wächst der Ehrgeiz, ein verlorenes Volk zu trösten. Also muss zunächst die Vorhaut weg. Herr Schwartz macht das zum Schleuderpreis, nur ist er fast blind und rutscht ab. Fortan trägt Xavier nur noch einen Hoden am Mann. Den anderen schleppt er im Glas mit sich herum und nennt das König David wie den König der Juden.

In slapstickhafter Parallelsetzung zu einem anderen Größenwahnsinnigen durchläuft Xavier nun ein Stationenpanorama auf der Suche nach ein bisschen Heldentum am Ende des 20. Jahrhunderts. Bis er im Gelobten Land ankommen wird, säumen Figuren seinen Weg, denen ihr Autor Unglaubliches in den Mund legt. Das wächst sich aus zum Zerrspiegel unserer Verirrungen. Xavier wird Gegenstand der Boulevardpresse, sein Fitnessnarrenvater stirbt unterm Punchingball, Mutters Neuer ist ein netter Pädophiler, das Komitee Wachsamer Eltern verliert sein Ziel aus den Augen, vorm Kaufhaus schüttet einer vom Wachschutz sein Herz aus, eine Bande im Park zitiert Kierkegaard, Mutter wird zur Ritzerin und entdeckt im italienischen Küchenmesser ihren späten Geliebten und wenn Xavier und Awrommele neben all dem noch Zeit haben, übersetzen sie "Mein Kampf" ins Jiddische, weil das eine Goldgrube sein könnte.

Die Juden sind nicht der Staat Israel. Zwischen Gutmenschen und Politikern sind sie eine Manövriermasse. Ihr Staat dürfte erst gegründet werden, wenn der Messias erscheint. Als solcher kommt schlussendlich mit seiner Reliquie Xavier, der vorher auch als Maler dilettiert hatte. Nun denunziert er als Landespolitiker seine Gegner, senkt die Arbeitslosenquote, baut Autobahnen und bietet aus seinem Bunker heraus Atombomben an.

Das alles ist urkomisch, aber nicht lustig. Es ist die ins Absurde weitergedrehte Spirale unserer Zeit. Dies mit so viel Verve und Respektlosigkeit zu tun, macht Arnon Grünberg keiner nach. Auch nicht, wie er erreicht, dass uns das Lachen im Halse stecken bleibt.

Arnon Grünberg: Der jüdische Messias. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Diogenes. 638 Seiten. 24,90 Euro.

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