Warnschuss für Erdogan

Ankara. Als der türkische Verfassungsgerichtspräsident Hasim Kilic mit strenger Miene den Sitzungssaal seines Gerichts in Ankara betrat, rutschte so manchem Parteifreund von Premier Recep Tayyip Erdogan (Foto: dpa) das Herz in die Hose. Das Gericht werde die Regierungspartei AKP verbieten, wetterte der Abgeordnete Seref Malkoc nur wenige Minuten vor der Stellungnahme von Kilic

Ankara. Als der türkische Verfassungsgerichtspräsident Hasim Kilic mit strenger Miene den Sitzungssaal seines Gerichts in Ankara betrat, rutschte so manchem Parteifreund von Premier Recep Tayyip Erdogan (Foto: dpa) das Herz in die Hose. Das Gericht werde die Regierungspartei AKP verbieten, wetterte der Abgeordnete Seref Malkoc nur wenige Minuten vor der Stellungnahme von Kilic. Wie Malkoc hatten die meisten Beobachter in Ankara eine solche Entscheidung erwartet. Tatsächlich verhieß Kilics Eingangsstatement für die AKP zunächst nichts Gutes. Der Gerichtspräsident machte der Erdogan-Partei schwere Vorwürfe. Doch dann sprach Kilic den wichtigsten Satz des Tages: "Die AK-Partei wird nicht verboten."

Sechs von elf Richtern hatten zwar für ein Verbot gestimmt, das war nur einer weniger, als für eine Auflösung der größten Partei des Landes notwendig gewesen wäre. Die Meinung von vier Richtern, die sich für eine Kürzung staatlicher Finanzbeihilfen für die AKP und eine scharfe Verwarnung der Regierungspartei ausgesprochen hatten, setzte sich jedoch mit ihrer Meinung durch. Kilic selbst stimmte als einziger Richter dafür, den Verbotsantrag der Generalstaatsanwaltschaft rundweg abzulehnen.

Weniger Geld vom Staat - das dürfte Erdogan kaum beunruhigen. Die AKP verfügt über viele Gönner mit tiefen Taschen und kann auch ohne kräftige Zuschüsse aus der Staatskasse ihre Wahlkämpfe organisieren. Politisch bedeutsamer ist die von Kilic angekündigte Verwarnung der Regierungspartei, die in der schriftlichen Urteilsbegründung ausformuliert werden soll. Auch wenn die AKP nicht verboten worden sei, habe das Gericht doch festgestellt, dass Erdogans Partei ein "Brennpunkt islamistischer Aktivitäten" sei, sagte der Oppositionsabgeordnete und AKP-Gegner Atilla Kart. Ein strahlender Sieg ist die Entscheidung für Erdogan also nicht.

Kein Verfassungsrichter sei erfreut über Parteiverbote, sagte Kilic. Doch solche Prozesse seien unausweichlich, wenn sich die Parteien bei wichtigen Themen nicht einigen könnten, warnte der Verfassungsgerichtspräsident, der selbst als AKP-nah gilt. Das war ein deutlicher Hinweis auf den von Erdogan durchgesetzten Kopftuchbeschluss des türkischen Parlaments im Februar: Damals verzichtete die AKP darauf, sich mit ihren kemalistischen Gegnern im Parlament zu einigen und suchte sich eine kleinere, nationalistische Partei als Bundesgenossen. Das Verfassungsgericht hatte den Beschluss anschließend kassiert. Solche Alleingänge wollen die Verfassungsrichter von Erdogan nicht noch einmal sehen.

Konkret bedeutet das, dass sich die AKP um einen breiten gesellschaftlichen Konsens bemühen muss, wenn sie die Kopftuchfrage lösen will. Tut sie das nicht, könnte sie bald wieder vor den Richtern landen. Das gilt auch für andere wichtige Fragen wie etwa die geplante neue Verfassung. Um wieder glaubwürdig zu werden, müsse Erdogan mehr zur Beruhigung seiner Gegner tun, die einen Marsch in den islamischen Gottesstaat befürchten, analysierte die Zeitung "Vatan". Mit seiner Entscheidung bewahrte das Gericht das Land vor vorgezogenen Neuwahlen.

Meinung

Chance für

die Demokratie

Von SZ-Mitarbeiterin

Susanne Güsten

Die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts im Verbotsverfahren gegen die AKP ist eine Warnung für die Regierung Erdogan und eine Chance für die türkische Demokratie. Zwar wäre ein solches Verfahren unter den rechtsstaatlichen Prinzipien westeuropäischer Länder kaum möglich gewesen - die Anklage gegen die Erdogan-Partei war juristisch dünn und offensichtlich politisch motiviert. Doch die Türkei erhält nun eine neue Chance, wichtige Fragen dort zu entscheiden, wo es in einer Demokratie geschehen sollte: in der Zivilgesellschaft und im Parlament. Inmitten einer aufgeheizten Stimmung hat das Gericht es vermieden, sich auf Freispruch oder Parteiverbot festzulegen und das Land vor einer Krise und einem möglichen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen bewahrt.

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