EU-Gipfel zur Brexit-Frage Das Wort der Stunde

London · Woche der Wahrheit in London und Brüssel: Noch immer ist unklar, wie der Austritt der Briten aussehen soll. Der morgige EU-Gipfel soll es richten – endgültig.

Diese für die Brexit-Verhandlungen so schicksalhafte Woche begann für die Briten deutlich anders als gewünscht. So hatten Beobachter erwartet, dass es am Sonntag zu einem Durchbruch bei den Austritts-Gesprächen kommen würde. Stattdessen aber reiste Brexit-Minister Dominic Raab nach wenigen Stunden wieder aus Brüssel zurück auf die Insel, ohne dass kurz vor dem morgen Abend beginnenden EU-Gipfel eine Einigung erzielt worden wäre.

Auch wenn Premierministerin Theresa May gestern im Parlament betonte, dass ein Austrittsabkommen noch immer „erreichbar“ wäre und man „echten Fortschritt“ in der Irlandfrage erzielt habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Königreich nun ohne Deal aus der Gemeinschaft scheidet, ist mit dem Abbruch der Gespräche wieder gewachsen. „Trotz intensiver Anstrengungen sind einige zentrale Punkte noch immer offen“, ließ EU-Chefunterhändler Michel Barnier wissen. Als größter Knackpunkt gilt die Vermeidung von Kontrollen an der irisch-nordirischen Grenze (siehe Text unten). Zuletzt lag ein Vorschlag auf dem Tisch, nach dem das gesamte Königreich für eine Übergangszeit in der Zollunion bleiben würde, damit Grenzkontrollen weitgehend vermieden werden können. Diese Lösung könne aber nur von vorübergehender Dauer sein, schränkte May ein. Ex-Außenminister und Brexit-Cheerleader Boris Johnson warf ihr derweil vor, eine Lösung zu verhandeln, „die Großbritannien zu einer dauerhaften Kolonie der EU macht“. Die konservative Partei ist in der Brexit-Frage tief zerstritten.

Dabei tickt die Uhr. Am 29. März 2019 scheiden die Briten offiziell aus der EU aus und Ratspräsident Donald Tusk hat bereits vor Wochen angekündigt, dass nun „der Moment der Wahrheit“ gekommen sei, obwohl ein Übereinkommen theoretisch auch noch im November oder Dezember denkbar ist, wie etwa der irische Regierungschef Leo Varadkar meinte. Sollten die beiden Seiten keine grundsätzliche Einigung finden, so warnte Tusk, werde man im November einen Sondergipfel zur Vorbereitung eines ungeordneten Austritts einberufen. Das No-Deal-Szenario, vor dem insbesondere die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals warnt, hängt mittlerweile wie ein Damoklesschwert über dem Kontinent und niemand weiß so richtig, ob die Fronten wirklich so verhärtet sind, wie sie scheinen, oder die vergangenen Wochen vor allem Teil des üblichen Säbelrasselns zwischen Verhandlungspartnern waren.

Angeblich kam die Abreise von Raab nämlich keineswegs überraschend für die Brüsseler Bürokraten. Vielmehr habe es sich laut Medienberichten um eine „Choreografie“ der Londoner Regierung gehandelt, um der heimischen Bevölkerung zu signalisieren, dass man mit harter Hand die britischen Interessen verteidige. Es sei nun an der Zeit, einen „kühlen Kopf zu bewahren“, sagte Theresa May gestern im Unterhaus. Der Brexit ist abermals zur Chefsache hochgestuft worden. Wie cool die unter Druck stehende Premierministerin selbst in dieser historischen Woche agiert, wird sich morgen zeigen. Dann trifft sie auf die Staats- und Regierungschefs der übrigen 27 Mitglieder.

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