"Wir machen die Drecksarbeit"

Herr Ai, wollen Sie ins Gefängnis? Ai Weiwei: Nein, ich will nur die Wahrheit.Wahrheit und Gefängnis liegen in China manchmal eng beieinander. Ai: Ich weiß, aber das hält mich nicht auf.Sie und ihre Helfer erstellen seit drei Monaten eine öffentliche Liste aller Kinder, die beim Erdbeben am 12. Mai 2008 getötet wurden

Herr Ai, wollen Sie ins Gefängnis?

Ai Weiwei: Nein, ich will nur die Wahrheit.

Wahrheit und Gefängnis liegen in China manchmal eng beieinander.

Ai: Ich weiß, aber das hält mich nicht auf.

Sie und ihre Helfer erstellen seit drei Monaten eine öffentliche Liste aller Kinder, die beim Erdbeben am 12. Mai 2008 getötet wurden. Die Regierung hat eine solche Aufstellung bisher verweigert, offenbar um Proteste gegen marode Schulgebäude zu verhindern.

Ai: Das sind leider die Methoden, mit denen die Kommunistische Partei ihre Macht zu sichern versucht. Deshalb ist ihre Herrschaft heute selbst ein einziges Tofu-Gebäude . . .

. . . ein Spottname für die eingestürzten Gebäude, bei deren Bau geschlampt wurde.

Ai: Weil das System unseres Landes jederzeit kollabieren kann, müssen wir es zwingen, sich zu ändern: Die Regierung muss endlich anfangen, zu ihren Fehlern zu stehen und daraus zu lernen. Die eingestürzten Schulen in Sichuan sind da ein Paradebeispiel: Das Erdbeben hat gezeigt, dass viele Gebäude nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsstandards entsprechen, und weil wahrscheinlich ein Großteil der chinesischen Schüler in Tofu-Häusern zum Unterricht geht, sollte man die Menschen auf die Gefahr aufmerksam machen und mit vereinten Kräften etwas dagegen tun. Aber die Regierung sträubt sich gegen eine öffentliche Untersuchung, und wenn man die Behörden in Sichuan fragt, wie viele Kinder in Schulen getötet wurden, antworten sie nur: Wir arbeiten noch an den Zahlen. Verdammt noch mal, das kann doch nicht so schwer sein!

Wie viele Namen stehen inzwischen darauf?

Ai: Nach dem aktuellen Stand haben wir 5203 Namen mit persönlichen Angaben, Adresse und Kontakten der Angehörigen. Aber wir sind noch lange nicht fertig. Im Moment sind über 60 freiwillige Helfer in Sichuan unterwegs, um Informationen zu sammeln. Es ist eine undankbare Aufgabe, aber irgendjemand muss ja die Drecksarbeit machen.

Welche Leute sind dazu bereit?

Ai: Wir haben Studenten, Anwälte, Künstler, Schriftsteller und Musiker, aber auch Mütter, die beim Erdbeben ihr Kind verloren haben. Die Teilnehmer haben sich auf einen Aufruf in meinem Blog beworben. Wir haben auch nicht alle genommen, denn sie mussten erst einen ausführlichen Fragebogen ausfüllen, der sie darauf vorbereitet hat, auf was sie sich da einlassen.

Sie setzen ihre Helfer einem erheblichen Risiko aus.

Ai: Ja, der Druck ist gewaltig. Einige unserer Helfer sind festgehalten, abgeführt oder bedroht worden. Aber wir haben allen Teilnehmern klare Anweisungen gegeben, wie sie sich verhalten müssen: Wir demonstrieren nicht, wir suchen keine Konfrontation, wir wiegeln niemanden auf. Alles was wir machen, ist Fakten sammeln. Aber natürlich geht es um mehr. Gewissermaßen funktioniert das Projekt wie eine klassische Bürgerrechtsbewegung, denn die Teilnehmer lernen dabei sehr viel über ihr Land, ihre Regierung, ihre Kultur.

Zum Beispiel?

Ai: Sie lernen das Leben hinter der offiziellen Propaganda kennen. Ein Beispiel: Ein Teilnehmer hat den Vater eines getöteten Kindes getroffen, der von den Behörden schon mehrfach verlangt hat, die Bauqualität der lokalen Schule zu untersuchen. Die Familie gehört zu einer kleinen ethnischen Minderheit, den Qiang, und eines Tages haben die Polizisten ihm angedroht: "Wenn du nicht Ruhe gibst, ändern wir die ethnische Zugehörigkeit auf deinem Personalausweis in "Tibeter" - dann können wir dich als Freiheitskämpfer verfolgen, und was meinst du, was dir dann blüht?!" Bei einer solchen Geschichte muss es einem doch wie Schuppen von den Augen fallen, in was für einem scheußlichen System wir leben.

Zur Person

Ai Weiwei (52, Foto: dpa) gilt als einer der bedeutendsten chinesischen Künstler. 2007 gehörten Ais Arbeiten zu den Hauptattraktionen der "documenta 12" in Kassel. Der Sohn eines liberalen Schriftstellers, der unter Mao als Rechtsabweichler gebrandmarkt wurde, verbrachte einen Teil seiner Jugend mit seinem Vater in einem Straflager. Nach der Kulturrevolution studierte er an der Pekinger Filmakademie und in den USA. Seit Anfang der 90er Jahre lebt Ai in Peking und ist für seine politischen Provokationen bekannt. Unter anderem wirkte er beim Entwurf des Pekinger Olympiastadions mit, nahm aber aus Protest nicht an der Eröffnungsfeier mit. baa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort