Nachts im Saarbrücker Zoo Einmal schlafen zwischen Python und Tapir

Saarbrücken · Bei einer Nachtführung im Saarbrücker Zoo geht es für Grundschüler um Spaß und Lernen – und alles auf Tuchfühlung mit den Tieren.

 Aug’ in Aug’ mit der Königspython, über die es viel zu lernen gibt: Auch das gehörte für die Viertklässler zum Zoo-Besuch mit Übernachtung. Nächtliche Führungen gehören im Saarbrücker Zoo zum pädagogischen Angebot.

Aug’ in Aug’ mit der Königspython, über die es viel zu lernen gibt: Auch das gehörte für die Viertklässler zum Zoo-Besuch mit Übernachtung. Nächtliche Führungen gehören im Saarbrücker Zoo zum pädagogischen Angebot.

Foto: Nicole Paschek

Vor dem Gehege der gefährlichsten Tiere im Zoo saßen lange nicht mehr so viele Kinder so still auf den Bänken. Niemand bewegt sich. Schwaches Mondlicht dringt ins Affenhaus. Niemand sieht etwas. Draußen zirpen die Insekten. Drinnen erzählt Silke Reinig von den Schimpansen. Die lassen sich aber nicht blicken. Reinig schaltet ein kleines Licht an und blickt durch die Scheibe, welche die Besucher von den sechs Menschenaffen trennt. Da springt ein großer schwarzer Schatten von der oberen Plattform, bewegt sich auf die Scheibe zu. Einen Meter davor bleibt er stehen. Es ist Jonny, der den außergewöhnlichen Nachtbesuch inspiziert. Wäre es heller, wären die Muskeln und vielleicht auch die Zähne zu sehen, die Schimpansen zu einem der gefährlichsten Zootiere überhaupt machen.

Reinig ist Zoopädagogin. In einer Sommernacht führt sie eine Schulklasse durch den Saarbrücker Zoo. Normalerweise ist dort um 18 Uhr Schluss für Besucher und Feierabend für Mitarbeiter und Tiere. Die zwanzig Viertklässler dürfen an diesem Abend aber im Zoo übernachten – im Forscherhaus, direkt neben der Königspython. Nur wenige Zoos in Deutschland bieten solche nächtlichen Führungen an.

Seit sechs Stunden ist die Erdmännchen-Klasse der Saarbrücker Grundschule Ost schon im Zoo unterwegs. Immer wieder ermahnt Reinig die Kinder, ruhig zu sein, damit sich die Tiere nicht unnötig aufregen. „Sonst fragen mich die Tierpfleger morgen, was ich hier nachts im Zoo gemacht habe. Die Tiere wären so komisch drauf“, sagt die 48-Jährige. So war es nach einer Zooübernachtung vor ein paar Jahren: Die Kinder drückten gerade ihre Nasen an die dunkle Scheibe des Schimpansengeheges, da sprang aus dem Nichts Jonny dagegen. Das Geschrei war groß, alle Tiere im Zoo hellwach.

Die Erdmännchen-Klasse will im Zoo vor allem eines – Spaß haben. Für den Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) haben Zoos vor allem drei Aufgaben: Artenschutz, Forschung sowie Bildung. Das fordert auch das Bundesnaturschutzgesetz. Dem Bildungsauftrag kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Lerne ich beispielsweise, wie weggeworfenes Plastik verschiedenen Tieren schadet, achte ich in Zukunft möglicherweise darauf, Kunststoffe zu vermeiden. So kann Wissen auch zum Schutz der Natur führen. Doch lernen die Kinder überhaupt etwas beim Zoo-Besuch? Kommt darauf an, wie sie das tun: ob sie die Infotafeln lesen, kommentierte Fütterungen, Führungen oder Zoounterricht besuchen. Die Qualität dieser Bildungsangebote entscheidet darüber, was sie dabei lernen.

Ob im Zoo mehr hängen bleibt als in der Schule, untersuchte eine Studie im Saarbrücker Zoo. In der Tat konnten Sechstklässler nach dem Zoounterricht wesentlich mehr Fragen beantworten als nach dem Klassenunterricht – das galt allerdings nur für die leistungsschwachen Schüler. Im Schnitt waren dann statt 50 knapp 65 Prozent der Antworten richtig. Sechs Wochen später beantworteten aber alle Kinder nur noch etwas mehr als die Hälfte der Fragen korrekt, egal nach welchem Unterricht. Der Zoounterricht interessierte die Kinder aber stärker. Aus vielen Studien ist bekannt, dass Schüler besser lernen, wenn sie sich für etwas interessieren. Und Reinig weiß, wie sie das Interesse der Kinder weckt.

Im Südamerikahaus liegt ein strenger Geruch in der Luft. Beim Anblick der hineinströmenden Kinder legt sich Flachlandtapir Bruno sofort zur Seite. „Der weiß, dass er gleich gestreichelt wird“, sagt Reinig. Aber nur durch den Zaun – denn die Tiere sind groß und schwer. Neugierig sind sie auch, haben eine Freundin von Reinig mal an den Haaren gezogen.

Solche Anekdoten erzählt die Zoopädagogin in dieser Nacht noch öfter. Damit will sie Begeisterung für die Tiere schaffen und Ängste abbauen. Dazu nutzt sie auch unglaubliche Tierfakten und – wo möglich – eben auch den direkten Kontakt zu den Tieren. Diese besser kennen zu lernen ist für Reinig auch aus einem anderen Grund wichtig: „Man kann nur das schützen, was man kennt.“ Verschiedene Studien geben ihr Recht: Sie zeigen, dass man eher bereit ist, bestimmte Tiere zu schützen, wenn man sie selbst bewundern und erleben konnte.

Reinig erklärt den Kindern deshalb erst, wo die Tapire leben, warum ihre Füße so besonders sind und ihre Haut so hart ist. Fliehen sie im Regenwald Südamerikas durchs Unterholz, prallen spitze Äste oder Dornen einfach daran ab und können sie nicht verletzen. In Fünfergruppen überzeugen sich die Kinder selbst von der Härte der Haut und merken dabei: Die Haare sind weich. Als Brunos rechtes Hinterbein auch noch zuckt wie bei einem Hund, dem man seinen Bauch krault, lachen die Kinder laut. Ab jetzt steigt der Lärmpegel im Südamerikahaus immer weiter. Je lauter die Sonnensittiche singen, umso lauter sind auch die Kinder. Reinig muss fast schreien, als sie vor dem Becken der Piranhas erzählt, dass diese Aasfresser sind: „Was würde passieren, wenn ich jetzt meinen Finger da reinstecke?“ Die Kinder sind sich nicht einig. „Nichts! Schließlich blute ich ja nicht“, klärt Reinig auf und sperrt eine versteckte Tür neben dem Aquarium auf. Im Räumchen dahinter strömt warmes Licht auf vier Stufen, die zum Podest hinter dem Becken führen. Von dort oben betrachten die Kinder die Piranhas. „Aber keiner steckt den Finger ins Wasser!“, schiebt Reinig sicherheitshalber noch hinterher.

Doch Fakten allein machen noch keine Bildung – dazu gehört auch, Zusammenhänge zu verstehen. Überträgt man die Ergebnisse einer Londoner Studie auf die Erdmännchen-Klasse, verlassen acht der 20 Schüler den Zoo mit einem besseren Verständnis über den natürlichen Lebensraum von Tieren. Bei zweien verschlechtert es sich aber auch. Die Forscher untersuchten das anhand von Zeichnungen der Kinder: Vor dem Zoobesuch malte ein Kind beispielsweise ein Faultier neben einem Iglu. Ein bekannter Kinderfilm war da offensichtlich ein schlechtes Vorbild. Nach dem Zoobesuch malte dasselbe Kind ein im Baum hängendes Faultier. Jedoch zeigten ein paar Kinderbilder danach Tiere in Gefangenschaft.

Ohne eine zoopädagogische Führung schneiden nur sieben der 20 Kinder nach dem Zoobesuch besser ab als zuvor und drei schlechter. Dieser Unterschied von knapp sieben Prozent ist bei einer einzelnen Schulklasse nicht groß. Letztes Jahr besuchten bundesweit aber etwa 31 Millionen Menschen die Zoos des VdZ. Die Mehrheit ging auf eigene Faust durch den Tiergarten. Etwa 730 000 Besucher nutzten zoopädagogische Bildungsangebote.

Die Erdmännchen-Klasse erfährt in Saarbrücken am eigenen Leib, wie es ist, eine Fledermaus zu sein: Während sie Insekten jagt, muss sie Fressfeinde wie Eulen im Blick haben, die es auf sie abgesehen haben. Ein etwas anderes Fangspiel soll das simulieren: Neben fangen und sich-nicht-fangen-lassen, müssen die Schüler auch noch ein bestimmtes Kind im Blick behalten. Was als Spiel zehn Minuten dauert, muss die Fledermaus die ganze Nacht durchhalten.

Auf dem Weg zurück zum Forscherhaus macht die Klasse einen kurzen Halt im Nachtzoo. Dort ist es nachts hell und tagsüber dunkel, damit die nachtaktiven Tiere nicht schlafen, wenn die Besucher sie beobachten wollen. Die meisten Kinder versammeln sich vor den Flughunden, die durch den nächtlichen Besuch aus dem Schlaf gerissen werden und verdutzt zurück gucken. Ein junger Flughund klammert sich an seine Mama. Vier Wochen zuvor hat eine Gruppe seine Geburt live erlebt.

Zum Abschluss des besonderen Zoobesuchs am nächsten Morgen holt Reinig sie endlich raus. 17 Stunden lang haben die Kinder immer wieder in ihr künstliches Zuhause geschaut. Sieben Stunden lang haben sie neben ihr geschlafen. Jetzt blicken sie der Königspython endlich ins Gesicht, sehen die gespaltene Zunge und lernen, wie sie damit so geschickt Mäuse aufspürt. Dann darf jedes Kind sie einmal streicheln – manche nehmen dazu die ganze Hand, manche nur einen Finger. So oder so merken sie: Schlangen sind zwar kalt, aber überhaupt nicht schleimig. Ein Mädchen findet: „Die fühlt sich schön an!“

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