Leitartikel Was hinter Erdogans jüngsten Manövern steckt

Meinung · Die türkische Regierung liegt seit Monaten mit wichtigen westlichen Partnern im Clinch – jetzt erhöht Ankara den Druck, um Regierungen von Berlin bis Washington in Verlegenheit zu bringen. Ab sofort kann Präsident Erdogan über die Abschiebung ausländischer Häftlinge in ihre Heimatländer entscheiden. Damit eröffnet sich der Staatschef die Möglichkeit, inhaftierte Journalisten, Menschenrechtler oder Geistliche nach Hause zu schicken, um im Gegenzug Regierungsgegner aus dem Ausland in die Türkei überstellen zu lassen. Fast zur selben Zeit erklärt die griechische Regierung, in der Ägäis steige die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei auf EU-Gebiet übersetzen, wieder deutlich an. Athen vermutet dahinter politisches Kalkül.

Was hinter Erdogans jüngsten Manövern steckt
Foto: SZ/Robby Lorenz

Die Bundesregierung in Berlin lehnte laut Medienberichten bereits einen Austausch des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel gegen zwei Erdogan-kritische türkische Ex-Generäle in Deutschland ab. In den USA könnte der Austausch eines inhaftierten Erdogan-nahen Geschäftsmannes gegen einen in der Türkei einsitzenden amerikanischen Geistlichen auf die Tagesordnung kommen. Ankara will mit solchen Tauschgeschäften nicht nur Gefolgsleute schützen oder Regierungsgegner in die Türkei bringen. Dahinter steckt auch die Entschlossenheit, den Einfluss der Türkei auszuweiten. Diese Botschaft war bereits bei der Festnahme des deutschen Autors Dogan Akhanli in Spanien erkennbar.

In der Flüchtlingspolitik ist es ähnlich. Hier drohen Erdogan und andere türkische Regierungspolitiker bereits seit langem damit, die Schleusen zu öffnen und erneut hunderttausende Menschen aus Nahost, Afrika und Asien nach Europa übersetzen zu lassen. Der türkische Präsident hat in der Vergangenheit offen davon gesprochen, Flüchtlinge „auf Busse zu setzen“ und sie nach Europa zu schicken. Ob der jüngste Anstieg der Flüchtlingszahlen auf den griechischen Ägäisinseln ein Indiz dafür ist, dass Erdogan hier ernst macht, ist derzeit noch nicht klar.

Fest steht dagegen, dass sich das Flüchtlingsproblem aus türkischer Sicht nur sehr bedingt als Instrument gegen den Westen eignet. Ein neuer Flüchtlingsstrom würde die Türkei erneut zu einem Transitland für viele hunderttausend Menschen machen, von denen etliche im Land bleiben würden: Ankara würde sich also selbst neue Probleme einbrocken.

Ähnliches gilt für potentielle unmoralische Angebote an den Westen mit Blick auf einen Austausch von Häftlingen gegen Regierungsgegner. Sollte die Türkei tatsächlich diese Art von Erpressung versuchen, würde sie Brücken abbrechen, die so leicht nicht mehr aufzubauen wären. Abgesehen davon, dass ein Tauschhandel in westlichen Ländern illegal ist, wäre der Abschied der Türkei von den Normen des vernünftigen Umgangs miteinander offensichtlich. Schon jetzt muss sich Erdogan von westlichen Politikern den Vorwurf gefallen lassen, „Geiseln“ zu nehmen und sein Land nach dem Vorbild Nordkoreas umzubauen.

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