Affäre Selmayr Vollblut-Europäer und Junckers Strippenzieher

Brüssel/Saarbrücken · Martin Selmayr bringt Saarbrücker Studenten EU-Diplomatie bei – aber seine Beförderung bringt jetzt halb Europa auf die Palme.

 07.03.2018, Belgien Brüssel: Der neue Generalsekretär der EU-Kommission, Martin Selmayr, kommt zum Treffen des Kollegiums der Europäischen Kommission. Foto: Virginia Mayo/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

07.03.2018, Belgien Brüssel: Der neue Generalsekretär der EU-Kommission, Martin Selmayr, kommt zum Treffen des Kollegiums der Europäischen Kommission. Foto: Virginia Mayo/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Virginia Mayo

Er war der Mann hinter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Martin Selmayr. Als der im Februar in einer umstrittenen Blitzaktion zum Chef der 32 000 EU-Beamten befördert wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los. Nun könnte die Aktion auch Juncker selbst in Schwierigkeiten bringen.

Für Selmayr war gestern ein normaler Arbeitstag. Der seit Monatsanfang amtierende Generalsekretär der Europäischen Kommission musste sich keine Sorgen um das machen, was nur einen Steinwurf entfernt im EU-Parlament stattfand: Die Mitglieder des Haushaltskontrollausschusses wollten wissen, wie Juncker Ende Februar seinen wichtigsten Mitarbeiter innerhalb von wenigen Minuten zwei Mal befördern konnte, damit der anschließend zum höchsten Beamten der Kommission avancierte. Geladen hatten die Parlamentarier nicht Selmayr, sondern den für Personalfragen zuständigen deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Der bestätigte gestern, was ohnehin längst alle wussten: „Wir sind auch nach mehrmaliger, nochmaliger Prüfung von der Ordnungsmäßigkeit und Rechtmäßigkeit des Verfahrens und des Verfahrensergebnisses überzeugt.“

Trotzdem wurden die Vorwürfe seither jeden Tag schärfer. Als Juncker beim EU-Gipfeltreffen auf den Fall angesprochen wurde, habe er sogar mit Rücktritt gedroht: „Wenn Selmayr gehen muss, gehe ich auch.“ Zumindest wird es so in Brüssel kolportiert.

Im Parlament wird inzwischen offen von Vetternwirtschaft gesprochen. Dennis de Jong, ein Abgeordneter der Linken, brachte sogar ein Misstrauensvotum gegen Juncker ins Gespräch. Das muss der Kommissionspräsident allerdings nicht fürchten: Die christdemokratische Mehrheitsfraktion, aus deren Reihen Juncker stammt und der auch Selmayr nahesteht, wird einen Sturz des Kommissionschefs nicht zulassen. Allerdings wäre bereits die Abstimmung eine heftige Beschädigung des Kommissionspräsidenten.

Dennoch wird die Affäre inzwischen von weiteren Kräften in Brüssel ordentlich befeuert – weil der gebürtige Bonner Deutscher ist. Und weil auch der Generalsekretär des Parlamentes, Klaus Welle, und die Generalsekretärin des Auswärtigen Dienstes, Helga Schmidt, aus der Bundesrepublik stammen. Dazu noch die Chefs des ESM-Rettungsfonds, der Europäischen Investitionsbank und des Europäischen Rechnungshofes. Auch den größten Fraktionen des Europäischen Parlamentes (Christ- und Sozialdemokraten sowie Grünen) sitzen deutsche Abgeordnete vor. „Wenn man das alles zusammenrechnet, entsteht ein Eindruck: Die Deutschen sind zwar Demokraten geworden, aber ansonsten dominieren sie trotzdem den europäischen Verein“, sagte der Luxemburger EU-Parlamentarier und Christdemokrat Frank Engel. Der Eindruck trügt: Auf der Ebene der höheren Beamten besetzt die Bundesrepublik gerade mal zehn Prozent der Posten, obwohl die 16 Prozent der Bevölkerung der Union stellt. Trotzdem zündet das Argument der „deutschen Machtübernahme“ Europas immer mehr.

Doch in der Causa Selmayr geht es auch um persönliche Ressentiments: Der 47-Jährige ist wegen seines herrischen Führungsstils wenig beliebt. In Brüssel erzählt man sich diesen Witz: „Was ist der Unterschied zwischen Selmayr und Gott? Antwort: Gott denkt nicht, Selmayr zu sein.“

Die regierungsähnliche Struktur der Juncker-Kommission sei, so heißt es, ebenso sein Konzept gewesen wie die Spitzenkandidaten bei der vergangenen Europawahl 2014. Selmayr, der sich eigentlich schon zu einer Londoner Bank verabschiedet hatte, tauchte plötzlich wieder auf, managte Junckers Wahlkampf und schaffte anschließend als seine rechte Hand einen ungeahnten Karrieresprung. Die Frage, ob Juncker oder Selmayr in der Kommission das Sagen haben, fällt selbst Brüsseler Kennern schwer zu beantworten.

Nun hat Selmayr die wichtigste Schaltstelle im EU-Beamtenapparat inne: Beim Generalsekretär der Kommission laufen alle Fäden zusammen. Alle Gesetzesvorhaben, die die Generaldirektionen planen, schlagen hier zunächst auf. Hier werden sie auf mögliche Folgen gecheckt, für aussichtsreich und gut befunden, dann an die zuständigen Kommissare zur Weiterbearbeitung weitergeleitet. Oder sie landen bei Missfallen in der Mülltonne.

Bei aller Kritik an Selmeyr schwingt oft auch Bewunderung mit. Er gilt als kompetent und sachkundig. Einer der engen Freunde Junckers sagt deshalb auch: „Selmayr mag manchen zu mächtig und einigen auch zu überheblich sein – aber niemand kann bestreiten, dass er ein wirklich großartiger Europäer ist.“ Ihn treibt der europäische Traum an, den er in seiner Jugend kennengelernt hat: „Wenn man 15 Jahre alt ist und von seinem Großvater dieses Meer von Kreuzen in Verdun gezeigt bekommt, hinterlässt das einen unauslöschlichen Eindruck“, erzählte er einmal.

Selmayr, der in Genf, Passau und London Rechtswissenschaften studierte, verschrieb sich Europa.  1998 ging er zur Europäischen Zentralbank, 2001 als Berater zum Bertelsmann-Konzern, 2004 zur EU-Kommission. Neben dem Job in Brüssel ist er auch Honorarprofessor am Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Bereits seit Anfang des Jahrtausends weiht er die Saarbrücker Studenten in die Finessen der EU-Diplomatie ein. Über die Ausbildung am Europa-Institut äußerte er sich in einem SZ-Interview sehr positiv: Die Saarbrücker Absolventen gehörten „in aller Regel zu den besten Experten im europäischen Recht in ganz Europa“, sagte Selmayr. Immer wieder treffe er auf den Gängen der EU-Institutionen ehemalige Studenten aus dem Saarland, die es aufgrund ihrer Kenntnisse geschafft hätten, in Brüssel eine hervorragende Stelle zu bekommen.

Besonders herausragend ist nun Selmayrs eigene Position. Doch der Wirbel um ihn ist noch längst nicht vorbei. Selmayr selbst hält sich aus der Diskussion raus – und macht es damit seine Kritikern sogar noch schwerer.

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