Vier von fünf Opfern waren junge Buben

Berlin/Trier · Als vor sechs Jahren alte Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg bekanntwerden, kommt in der katholischen Kirche eine Lawine ins Rollen. Jetzt haben Wissenschaftler den ersten Teil einer aufwendigen Analyse vorgelegt – im Auftrag der Kirche.

Sexuelle Unreife, Persönlichkeitsstörungen und pädophile Neigungen: Was Wissenschaftler über katholische Geistliche zu sexuellem Missbrauch zusammengetragen haben, klingt erschreckend. Anders als bei Missbrauchsfällen in Schulen und anderen Institutionen vergingen sich Geistliche in erster Linie an Jungen, berichtet Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit. Vier von fünf Opfern sind demnach männlich. Die Analyse gehört zum Forschungsprojekt zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Die Forscher wollen von Personalakten bis zu Geheimarchiven Dokumente zu sexuellem Missbrauch sichten. "Wir kriegen von den Diözesen bisher alles, was wir anfordern", sagte Dieter Dölling vom Kriminologischen Institut der Uni Heidelberg. Die Frage ist, ob die Akten-Methode die volle Wahrheit ans Licht bringen kann. 1700 Menschen haben bei der katholischen Kirche in Deutschland inzwischen Anträge auf Entschädigung für sexuellen Missbrauch gestellt und ihre Peiniger genannt. Oft gebe es in den Personalakten aber keine Hinweise auf sexuelle Übergriffe, sagt der Trierer Bischof Stephan Ackermann , Beauftragter der Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs. Im Rückblick liegt das Versagen wohl eher am Desinteresse der Kirche, genau hinzuschauen. Es habe Fälle gegeben, bei denen die Staatsanwaltschaft bei Missbrauchsvorwürfen gegen Geistliche ermittelte, die Kirche aber keinen eigenen Prozess anstrengte, sagt Ackermann.

Um ein genaueres Bild zu bekommen, wollen die Wissenschaftler neun Diözesen besonders unter die Lupe nehmen: Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, Magdeburg, Paderborn, Speyer und Trier. "Es geht um Erkenntnisse, welche Strukturen Missbrauch begünstigt haben", sagt Bischof Ackermann. Es geht aber nicht um Namensnennung oder Strafverfolgung.

Es ist vor allem diese Klausel, die Opferverbände zweifeln lassen. "Es ist für die Betroffenen absolut inakzeptabel, dass Bischöfe und kirchliche Vorgesetzte, die Missbrauchstaten unter der Decke gehalten und Täter geschützt haben, nicht genannt werden sollen", sagt Matthias Katsch für den "Eckigen Tisch".

Was bisher aus der Metaanalyse bekannt ist, gibt bereits einen Blick in den Abgrund frei: Unter 328 Tätern machten die Forscher 97 Mal emotionale und sexuelle Unreife aus, 71 Mal Persönlichkeitsstörungen und 58 Mal Merkmale von Pädophilie.

Ackermann geht davon aus, dass der Skandal die Kirche seit 2010 geläutert hat. Das Schuldbewusstsein sei gewachsen. "Sexuelle Übergriffe sind keine Tätschelei, sondern ein Verbrechen", sagt er. Matthias Katsch glaubt dagegen nicht, dass die katholische Kirche aus den Missbrauchsfällen gelernt hat. "Die nichtlebbaren Vorschriften zur Sexualität von Priestern und Laien erzeugen eine permanente Doppelmoral", sagt er.

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