Streit um Grenzwerte Dicke Luft belastet das Groko-Klima

Berlin · Der Streit um Schadstoff-Grenzwerte im Autoland Deutschland hat auch die Bundesregierung erfasst. Von einer „Scheindebatte“ ist die Rede.

Autos fahren an der Feinstaub-Messstation am Neckartor in Stuttgart vorbei.

Autos fahren an der Feinstaub-Messstation am Neckartor in Stuttgart vorbei.

Foto: dpa/Bernd Weissbrod

Dicke Luft um dicke Luft: In der Bundesregierung ist ein offener Konflikt über den Sinn der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide in deutschen Städten entbrannt. Umweltministerin Svenja Schulze von der SPD trat gestern in Berlin vor die Presse, um die von Verkehrsressortchef Andreas Scheuer von der CSU mitbefeuerte Debatte scharf zu kritisieren, die auch am Wochenende erneut für Aufregung gesorgt hatte. Damit setzt sich die Reihe schwarz-roter (Grenz-)Konflikte vor großem Publikum fort – in der es auch schon um Obergrenzen, Grenzübertretungen oder Abgrenzungen ging – und entzündet sich nun am Streit um saubere Luft. Neues Jahr, neuer Zoff im Groko-Klima.

In den vergangenen Tagen würden viele Dinge „verdreht“, erklärte Umweltchefin Schulze. Daher trage die Grenzwerte-Debatte auch nicht zur Versachlichung bei. „Ich will keine Fahrverbote“, stellte die SPD-Politikerin klar. Aber die Lösung könne nicht darin bestehen, den Anspruch auf saubere Luft aufzugeben. Vielmehr müssten die Autos sauberer werden, meinte sie mit Blick auf notwendige Hardware-Nachrüstungen. Hier müsse der Bundesverkehrsminister bei den Autoherstellern „Überzeugungsarbeit“ leisten. „Scheindebatten“ über Grenzwerte, bei denen die Leute „für dumm verkauft“ würden, helfen nicht weiter, sagte Schulze.

Dagegen hatte Scheuer, beflügelt durch die Zweifel einer Gruppe von Lungenärzten an der wissenschaftlichen Plausibilität der Grenzwerte, gestern noch einmal seine Ansicht bekräftigt, dass die Grenzwerte „auf Willkür basieren“. Es gelte, ihre „Logik“ zu „hinterfragen“, über Standorte von Messstellen zu diskutieren. Deshalb wolle er das Thema auch mit den anderen EU-Verkehrsministern besprechen. Zugleich kam aus der Union die Forderung nach einer unabhängigen Expertenkommission zur Überprüfung der Vorgaben. Für Stickoxide liegt der EU-weite Grenzwert im Jahresmittel bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Für Feinstaub gelten Grenzwerte in Abhängigkeit der Partikelgrößen.

Nach Angaben von Schulze werden die Grenzwerte im Rahmen regelmäßiger Überprüfungen derzeit aber ohnehin schon von der EU-Kommission unter die Lupe genommen. Der letzte sogenannte Fittness-Check fand im Jahr 2013 statt. Daher bestehe auch kein Anlass, zusätzliche Überprüfungen zu fordern, meinte Schulze. Im Falle eines Änderungsbedarfs würde es nach einem Argumentationspapier ihres Ressorts allerdings „mehrere Jahre dauern“, bis es zu neuen Grenzwerten in der EU käme. Der Universitätsprofessor Christian Witt von der Berliner Charité stellte gestern klar, dass die Luftschadstoffe zu den „bestuntersuchten Substanzen“ zählten, ihre schädliche Wirkung belegt und daher „eher“ zu erwarten sei, dass die Grenzwerte „weiter nach unten“ angepasst werden müssten.

Schon in der Vergangenheit war es immer wieder vorgekommen, dass SPD- und Unions-geführte Fachressorts innerhalb der Groko politisch aneinander gerieten. Vor vier Jahren zum Beispiel eskalierte ein Zwist über die sogenannte Vorratsdatenspeicherung. Während der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) das Thema am liebsten stillschweigend beerdigt hätte, ließ sein Kollege Thomas de Maizière (CDU), seinerzeit Innenressortchef, schon fleißig an einem entsprechenden Gesetzentwurf werkeln. Ende 2017 fühlte sich die damalige Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) provoziert, weil der Amtskollege vom Agrar-Ressort, Christian Schmidt (CSU), trotz ihres Vetos einer Verlängerung der Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat in Brüssel zustimmte. Auch der Abgas-Konflikt selbst hat in der großen Koalition schon eine längere Tradition. Bereits vor zwei Jahren hatten das Umweltressort in Gestalt von SPD-Frau Hendricks und das Verkehrsressort unter Leitung des Scheuer-Vorgängers Alexander Dobrindt (CSU) darüber munter gestritten. Damals war eine Studie über einen deutlich höheren Stickoxid-Ausstoß von Diesel-Autos bekannt geworden als vordem angenommen, worauf die Sozialdemokratin dem Christsozialen Untätigkeit vorwarf und ihn ermahnte, „die Hersteller stärker in die Pflicht“ zu nehmen. Auf diesem Stand ist die politische Debatte praktisch jetzt wieder.

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