Nach Anschlag mit drei Toten Straßburg zwischen Schock und Solidarität

Straßburg · Nach dem Anschlag mit drei Toten suchten am Mittwoch mehr als 700 Polizisten den Täter. Zwischen den geschlossenen Buden des Weihnachtsmarktes spazierten nur wenige Touristen.

 Antiterror-Spezialisten mit Sturmgewehren bewachen den Weihnachtsmarkt in Straßburg nach dem Attentat, bei dem ein Mann am Dienstag mindestens drei Menschen erschossen hat.

Antiterror-Spezialisten mit Sturmgewehren bewachen den Weihnachtsmarkt in Straßburg nach dem Attentat, bei dem ein Mann am Dienstag mindestens drei Menschen erschossen hat.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Wenn mittags die Glocken des Münsters von Straßburg läuten, versammeln sich die Touristen vor dem Portal, um zu dem Turm aus rotem Stein hinaufzuschauen. So auch am Mittwoch, einen Tag nach dem islamistischen Anschlag mitten in der Altstadt. Zehn Minuten läuten die Glocken an diesem Tag zum Zeichen der Trauer, doch es sind nur einige wenige, die zwischen den geschlossenen Holzbuden des Weihnachtsmarktes stehen und zuhören. So wie Susan und Bill Emerson aus dem US-Bundesstaat Maine, die für einen Tag nach Straßburg gekommen sind. Die beiden Endfünfziger wirken verloren vor der geschlossenen Kathedrale. „Niveau urgence attentat“ steht auf dem Bildschirm vor dem Eingang. „So etwas passiert auch bei uns in den USA“, sagt Bill zu dem Terrorangriff mit drei Toten. Einen Stadtrundgang will er mit seiner Frau trotzdem machen: „Life must go on“. Das Leben geht weiter.

Das ist auch das Motto der Geschäftsfrau Mireille Oster, die das ganze Jahr über im Touristenviertel Petite France den Lebkuchenladen Pain d’Epices betreibt. Am Dienstagabend verkaufte die energische Frau auf dem Weihnachtsmarkt an der Place Broglie ihre Lebkuchen, als sie kurz vor 20 Uhr Schüsse hörte. „Dann sah ich, wie die Menschen wegrannten.“ Was Mireille Oster zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Der 29-jährige Cherif Chekatt hatte rund 200 Meter weiter in der Rue des Orfèvres um sich geschossen, bevor er seinen tödlichen Weg Richtung Petite France fortsetzte, wo die Touristen sich kurz vor Schließung des Weihnachtsmarktes noch um die Stände drängten. Drei Tote und 13 Verletzte hinterließ der Islamist auf seinem Weg, auf dem er mehrfach um sich schoss und mit dem Messer auf Passanten einstach.

Der in Straßburg geborene Attentäter schoss auch auf vier Soldaten der Anti-Terror-Operation Sentinelle, die das Feuer erwiderten und ihn am Arm verletzten. Um zu fliehen, zwang Cherif Chekatt einen Taxifahrer, ihn in das Straßburger Problemviertel Neuhof zu fahren. „Der Mann hat auf der Fahrt die Taten gestanden“, sagt der Staatsanwalt von Paris, Rémy Heitz, bei einer Pressekonferenz. Der Fahrer konnte auch die Verletzung des 29-Jährigen erkennen. Cherif Chekatt, der laut Augenzeugen „Allahu Akbar“ rief, ist der Polizei in Deutschland und Frankreich gut bekannt. 27 Mal wurde er wegen Diebstahls und Gewalttaten verurteilt. Ein Jahr seiner Haft saß er in Deutschland ab, bevor er 2017 nach Frankreich ausgeliefert wurde. Im Gefängnis ging er den Weg vieler anderer Attentäter: Er wurde streng religiös und versuchte, seinen Glauben auf radikale Art und Weise an seine Mitinsassen zu verbreiten. Er trägt wie rund 10 000 andere in Frankreich den Sicherheitsvermerk S und stand laut Heitz unter Beobachtung des Inlandsgeheimdienstes.

 Cherif Chekatt, der flüchtige, mutmaßlich islamistische Attentäter.

Cherif Chekatt, der flüchtige, mutmaßlich islamistische Attentäter.

Foto: dpa/Uncredited

Am Dienstagmorgen wollte die Polizei ihn festnehmen, fand ihn aber nicht und durchsuchte stattdessen seine Wohnung. Dort fanden die Beamten eine Granate, eine geladene Schusswaffe samt Munition sowie vier Messer. Am Mittwochnachmittag war der 29-Jährige weiter auf der Flucht. Mehr als 700 Polizisten und zwei Hubschrauber suchten in Straßburg und Umgebung nach ihm. An den Grenzübergängen nach Deutschland wurden Kontrollen eingeführt. Dem Staatssekretär im Innenministerium, Laurent Nuñez, zufolge könnte der Täter auch nach Deutschland geflohen sein. Wegen der Terrorgefahr blieben in Straßburg die Museen und Theater geschlossen, die Grundschulen sagten den Unterricht ab. „Es wird empfohlen, die Kinder zu Hause zu lassen“, stand auf einem Zettel an der Gittertür der Schule Saint Thomas, die am Eingang zur Petite France liegt.

In den engen Gassen des Touristenviertels saßen am Dienstagabend hunderte Einwohner und Touristen stundenlang in den Kellern von Restaurants fest, bis die Polizei für sie Entwarnung gab. „Es herrschte eine gute Solidarität“, berichtet eine Restaurantbesucherin hinterher. Am Mittwoch blieben die Läden und Spezialitätenrestaurants der Petite France leer. „Viele Gruppen haben ihre bereits gebuchten Stadtführungen abgesagt“, sagt Nadia Boes vom Tourismusbüro an der Place de la Cathédrale. Andere Touristen verkürzen nach dem Anschlag ihren Aufenthalt in Straßburg. „Die Leute hier sind betroffen.“ Auf dem Kléber-Platz, wo der große, mit bunten Lichtern geschmückte Weihnachtsbaum steht, legen Passanten Blumen nieder und zünden Kerzen an.

Die wenigen Touristen, die trotz der Gefahr in die Altstadt gekommen sind, zeigen wenig Angst. „Wir finden es nur schade, dass wir den Weihnachtsmarkt nicht erleben können“, sagen die Mitglieder einer Reisegruppe aus Recklinghausen. „Hoffentlich kommen wir wenigstens zu unserem angemeldeten Besuch ins Europaparlament hinein.“ Die EU-Vertretung mit ihren mehr als 700 Abgeordneten tagt diese Woche in Straßburg. Nach dem Anschlag wurde das Parlamentsgebäude, das außerhalb der Stadt liegt, abgeriegelt. Parlamentspräsident Antonio Tajani entschied aber, dass die Sitzung fortgesetzt wird. Am Mittwoch legten die Abgeordneten eine Schweigeminute für die Opfer ein.

Der Straßburger Weihnachtsmarkt, der jedes Jahr rund zwei Millionen Menschen anzieht, lebt seit dem Jahr 2000 mit der Bedrohung. Damals vereitelten deutsche Fahnder mit ihren Festnahmen den Anschlag einer Frankfurter Terrorzelle, die mit einem zum Sprengsatz umgebauten Schnellkochtopf ein Blutbad anrichten wollte. Nach den Anschlägen von Paris 2015 hatte sich die Stadtverwaltung entschieden, den 450 Jahren alten „Christkindelsmärik“ trotzdem abzuhalten. Die Altstadt wird seither abgeriegelt und an den Zugangsstellen sind Taschenkontrollen eingerichtet.

Auch am Dienstagabend kontrollierten Sicherheitsleute die Besucher der Innenstadt. Der Attentäter konnte mit einer Feuerwaffe und einem Messer aber trotzdem ins Zentrum gelangen. Noch in der Nacht kündigte Innenminister Christophe Castaner, der nach Straßburg kam, die höchste Terrorwarnstufe Urgence Attentat an. Der Staatsanwalt von Paris bestätigte, dass es sich bei den tödlichen Angriffen um einen Terroranschlag handelte. „Der Terrorismus hat wieder zugeschlagen“, sagte Heitz. Er ordnete Ermittlungen wegen Mordes, versuchten Mordes mit terroristischem Hintergrund und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung an.

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