Stefan Mörsdorf: „Heilung ist nicht das Ziel“

Saarbrücken · Seit vier Jahren muss Stefan Mörsdorf, bis 2009 Umweltminister des Saarlandes, mit starken Bewegungseinschränkungen leben. Trotzdem hat er dieses Jahr mehr als 100 Kilometer auf dem Jakobsweg zurückgelegt. Sein Rettungsboot aus der Krise: Gottvertrauen.

 Der frühere saarländische Umweltminister Stefan Mörsdorf (55) vor dem Taubenhaus in Gräfinthal, einem seiner Lieblingsorte. Foto: Rich Serra

Der frühere saarländische Umweltminister Stefan Mörsdorf (55) vor dem Taubenhaus in Gräfinthal, einem seiner Lieblingsorte. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Es ist ein scheußlicher, grauer Tag, die nasse Kälte gräbt sich in die Knochen. Freiwillig geht keiner einen Schritt mehr, als es muss. Doch: Stefan Mörsdorf (55). Und er geht schwer, zieht das linke Bein nach, den linken Arm mit den verkrampften Fingern hat er dicht an den Körper gedrückt. Zu Fuß kommt der frühere Minister vom St. Johanner Markt zur Redaktion der Saarbrücker Zeitung. Wenn es feuchtkalt ist, sagt Mörsdorf, würden die Spasmen besonders arg. Dann nimmt der blasse, schmale Mann all die vielen Treppen bis hoch zur Kantine. Eine Mühsal, begleitet von dem, was sein Alltag geworden ist: Schrecksekunden all jener, die ihn wiedererkennen, womöglich erstmals wieder sehen nach seiner plötzlichen schlimmen Erkrankung vor vier Jahren. Er war der "grüne" Umweltminister der CDU-Regierung, ein Naturbursche, der sich für Biber, Biosphärenreservat und Bliesbrücker Archäologie begeisterte, einst ein schlagfertiger Gute-Laune-Typ. Einst?

"Sie sehen, ich habe mich nicht an die Prognose gehalten, ein Schwerstpflegefall zu werden", sagt er. Bereits in der ersten Reha, noch im Rollstuhl, erklärte Mörsdorf seinem Trainer, er wolle "keine bunten Tücher in die Luft werfen", sondern in die "Leistungsgruppe Stabhochsprung". Und dann bastelte er sich blinkende Weihnachtsdeko an seinen Rollstuhl. Es ist dies vielleicht das schönste Bild für einen, der überbegabt scheint mit Selbstironie und Humor.

Beim ersten Treffen sitzen wir uns in seinem Haus in Schiffweiler gegenüber. Haushohe Glaswände reißen ein 180-Grad-Panorama ins Grüne auf, der meterlange Esstisch erinnert an einen universitären Bibliotheks-Tisch: Landkarten, das "Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät", Fotobände wie "Der Sternenweg" über die Jakobsweg-Route der Großregion. Es riecht angenehm nach Holz, denn nur damit wird hier geheizt. Und nach Nusskuchen; der Ex-Minister hat selbst gebacken. Doch Holz hacken, das geht noch nicht. Oder nie mehr? Zwischen diesen Polen spannt sich Mörsdorfs neues Leben.

Es begann am 12. Juli 2012. Mörsdorf war früher zuhause als üblich, es gelang ihm nicht, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, seine linke Gesichtshälfte kribbelte. Als er in der Homburger Uniklinik zu sich kam, war er linksseitig total gelähmt, konnte nicht mehr sprechen. Hätte die Spontaneinblutung ins Gehirn nicht ebenso spontan wieder aufgehört, Mörsdorf hätte nicht überlebt. Nein, er sei nicht panisch gewesen, sagt er: "Ich hatte von Anfang an ein Grundvertrauen." Ein Gottvertrauen? Seinen Glauben trägt Mörsdorf nicht auf der Zunge, er hütet einen kostbaren inneren Schatz. Erst am Ende sprechen wir darüber. Über sein Schlüsselerlebnis zum endgültigen Perspektivenwechsel, 2013, bei der Einweihung des Pfarrzentrums St. Eligius in Saarbrücken-Burbach. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann interpretierte die Lazarus-Geschichte und Mörsdorf erkannte: "Es geht nicht um Heilung, sondern darum, seine Krankheit anzunehmen und das Potenzial zu nutzen, das da ist. Dann gilt: Die Krankheit gereicht zur Ehre Gottes."

Nach dem Unfall wurde schnell klar: Der Kopf funktionierte einwandfrei, nur die Augenmuskeln gehorchten nicht mehr - lesen war unmöglich. Für einen Bücherwurm wie ihn wohl die härteste Prüfung. Bis heute quälen ihn Doppelbilder, das Lektüre-Vergnügen bezahlt er mit Erschöpfung.

Sieben Wochen blieb Mörsdorf in der Früh-Reha in Kusel, es folgten drei Monate in den Schmiederkliniken in Heidelberg, dann nochmal drei in der Reha in Illingen. Überall Top-Betreuung, trotzdem kam der Klinikkoller, er hatte "fürchterliches Heimweh". Aber Lebensmut und Lebensfreude, sie waren seine unerschütterlichen Begleiter.

Wie schafft man das? Entscheidende Durchhalte-Impulse empfing Mörsdorf von anderen Menschen: "Positive Beispiele haben mich motiviert. Das ist auch der Grund, warum ich über meinen Weg spreche, damit ich anderen Mut mache: Es lohnt sich, zu kämpfen." Er bastelte sich eine eigene Fortschritts-Strategie: Das erste Mal wieder alleine sitzen können, das erste Mal in der Klinik selbst den Koffer packen, das erste Mal alleine fliegen können. Das war vor zwei Jahren, eine Vortragsreise nach Algerien. Wahrlich zum Abheben schön. Als seinen größten Erfolg bezeichnet Mörsdorf, dem Kritiker schon mal Selbstüberschätzung attestierten, "dass ich Grenzen akzeptieren lernte."

Seit Juni ist Mörsdorf nicht mehr Geschäftsführer der Europäischen Akademie Otzenhausen. Es gab zweifelsohne Stress mit der Asko Europa-Stiftung - ein Tabuthema. Auch über die aktuelle Politik möchte er nicht wirklich reden, hält die Arbeit der großen Koalition im Saarland für "ordentlich", vermisst jedoch einen knackigen Querdenker in der Ministerriege: "Wenig Geld zu haben, bedeutet nicht, auch wenig Ideen zu haben." Er hat einen Lehrauftrag an der Universität Trier übernommen, spricht dort über systemischen Wandel, über "Metamorphosen und Katastrophen". Da kennt er sich nicht nur theoretisch aus. Einige Freunde hielten seine Verwandlung nicht aus, fremdelten. Mancher enge politische Weggefährte ließ nie was von sich hören, während beispielsweise der lose Kontakt zu einem Kurzzeit-Kabinettskollegen, Gesundheitsminister Gerhard Vigener, zu einer Freundschaft wuchs.

Der war auch bei Mörsdorfs erster Jakobsweg-Etappe mit dabei. 2016 entdeckte er das Pilgern, eher zufällig. Bei einem Ausflug mit seiner Ergotherapeutin traf er im Altheimer Pirminiusgarten (Blieskastel) auf den Autor des "Sternenweg"-Buches Peter Michael Lupp, verabredete sich spontan, für den 30. April. Die Route: 5,5 Kilometer von Hornbach nach Altheim. Eine Anmaßung, eine Befreiung. Danach war klar: "Ich könnte es bis Metz schaffen. Ich nahm mir vor, dort am Tag der Deutschen Einheit durch das Deutsche Tor einzumarschieren." Geschafft. In 20 Etappen, in rund 20 Tagesausflügen, denn übernachtet hat Mörsdorf unterwegs selten. Für 2017 stehen die nächsten 120 Pilger-Kilometer an, zwischen Metz und Neufchateau. Klingt nach Leistungssport, aber nicht umsonst war Mörsdorf Denkmalschutz-Minister. Das Pilgern nutzt er als Wiederentdeckungstour und Forschungsreise. Denn Heimatpflege war für ihn immer schon mehr als ein politischer Auftrag - persönliche Erfüllung.

Ist dann jetzt alles wieder gut? Nun ja. "Ich möchte mich nicht mehr für alles so unendlich anstrengen müssen", sagt er. Doch andererseits gilt: "Ich habe heute, anders als früher, einen Blutdruck wie ein junger Hund. Ohne meine Erkrankung läge meine Lebenserwartung weit unter der, die ich jetzt habe." Es ist wohl diese Art von Positivpolung, die ihn durch die Krise brachte. "Ja, das war wohl mein Rettungsboot", sagt er. Rudern musste Stefan Mörsdorf selbst. Staunenswert stark.

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Zur Person Stefan Mörsdorf, 1961 in Ottweiler geboren, Studium der Geologie, Botanik und Geografie. Bis 1999 Inhaber eines ökologischen Planungsbüros, dann parteiloser Umweltminister im Kabinett Peter Müllers (CDU ). Erst 2005 Eintritt in die CDU . Vier Jahre später Ende der Ministertätigkeit im Zuge der Bildung der Jamaika-Koalition. 2010 Geschäftsführer der Asko Europa-Stiftung , 2011 Geschäftsführer der Europäischen Akademie Otzenhausen. 2012 kam es zu einer Hirnblutung, trotzdem blieb Mörsdorf in seinem Vorstands-Job, den er 2016 aufgab "wegen unterschiedlicher Auffassungen" mit der Asko Europa-Stiftung . Derzeit Dozententätigkeit an der Uni Trier. Seit den 80er Jahren engagiert sich Mörsdorf im BUND, war dort stellvertretender Landesvorsitzender und zehn Jahre lang Landeschef des Naturschutzbundes Deutschland. Mörsdorf hat zwei Kinder (19 und 15 Jahre). Seine Frau arbeitet als Pfarrsekretärin. ce

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