Andrea Nahles Starke Rede, schwacher Zuspruch

Wiesbaden · Andrea Nahles erhält zwar nur schwache 66,3 Prozent, ist damit aber die erste Frau an der Spitze der SPD. Gegenkandidatin Simone Lange schlägt sich überraschend gut.

Die neue SPD-Chefin Andrea Nahles hielt auf dem Parteitag eine sehr kämpferische Rede. Für ein gutes Wahlergebnis reichte es trotzdem nicht.

Die neue SPD-Chefin Andrea Nahles hielt auf dem Parteitag eine sehr kämpferische Rede. Für ein gutes Wahlergebnis reichte es trotzdem nicht.

Foto: dpa/Boris Roessler

Andrea Nahles schluckt erkennbar, als sie sagt: „Ich nehme die Wahl an.“ Ihr Gesicht ist ernst, sie wirkt geschockt. 66,3 Prozent Zustimmung auf dem SPD-Parteitag in Wiesbaden, das ist dann doch deutlich weniger, als sie selbst und alle anderen Führungsleute gedacht haben. Fast ein Drittel der 631 Delegierten votiert für die völlig unbekannte Gegenkandidatin Simone Lange oder enthält sich der Stimme. Sieben Wahlzettel sind ungültig.

Angefangen hat es anders. Olaf Scholz, kommissarischer Parteichef, spricht zu Beginn von einem „historischen“ Ereignis, weil die SPD zum ersten Mal nach 155 Jahren jetzt eine Frau als Vorsitzende bekommt. Und Nahles hält eine fulminante Vorstellungsrede. Von Beginn an lässt die Fraktionschefin ihre mächtige Stimme dröhnen. Sie grinst häufig.

Ihre Mutter Gertrud ist auch da, Tochter Andrea grüßt sie: „Hallo Mama, Du hast sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde.“ In der ersten Reihe sitzen fünf ehemalige Parteivorsitzende der SPD, darunter Martin Schulz und Sigmar Gabriel.

Es ist der größte Tag in der politischen Karriere der 47-Jährigen, und man merkt, dass sie stolz und glück­lich ist. Sie redet sehr emotional, spricht über ihre Lebensgeschichte, ihren Weg aus einfachem Hause und über das Prinzip der Solidarität, das die SPD nun für die Herausforderungen der Zukunft neu definieren müsse. Auch spricht sie darüber, dass die Partei erstmals eine weibliche Vorsitzende bekommt: „Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt“, sagt Nahles. „Irgendwas führt dazu, dass am Ende doch immer wieder Männer ganz vorne stehen. Auf diesem Bundesparteitag wird diese gläserne Decke in der SPD durchbrochen. Und sie bleibt offen.“ Jubel. Ihre Ansprache endet mit einem selbstbewussten „Es wird uns gelingen, wir packen das“. Dann kommt der Abstimmungsschock.

Simone Lange hatte vor ihrer Bewerbung keinerlei bundespolitische Bedeutung. Sie ist Oberbürgermeisterin von Flensburg. Ihre Kandidatur hat sie vor neun Wochen aus Protest gegen die Parteiführung in Berlin erklärt, die die Nachfolge von Martin Schulz mal wieder unter sich ausgekungelt hatte. „Ich bin heute eure Alternative“, ruft die 41-Jährige bei ihrer Vorstellung aus. Lange setzt auf jene Teile der Basis, die mit dem Partei-Establishment unzufrieden sind. Einige ihrer Unterstützer halten Plakate hoch: „Liebe Delegierte, schreibt Geschichte, wählt Simone“, steht darauf.

Tatsächlich hat es das in der SPD noch nie gegeben, dass jemand von ganz unten gegen einen von den Führungsgremien einmütig Auserkorenen zu kandidieren wagt. Anfangs hat die Parteiführung Lange deshalb wie einen Störenfried betrachtet. Nahles mied jede direkte öffentliche Konfrontation mit ihr. Doch dann hatte man in Berlin registriert, dass es eine sehr kritische Basisstimmung gab. Lange sammelte Gegner der Großen Koalition, von Hartz IV und der Russland-Sanktionen um sich. Das Willy-Brandt-Haus schaltete auf faire Behandlung um.

Beide Bewerberinnen dürfen in Wiesbaden 30 Minuten reden, Lange nach dem Alphabet zuerst. Freilich schöpft sie ihre Redezeit nicht aus, anders als Nahles. Nach 16 Minuten endet die Flensburgerin bereits. Blass und tonlos spricht sie, das knallrote Kleid ist das Auffälligste an ihrem Auftritt. Aber auf die Performance kommt es hier nicht wirklich an. Lange thematisiert all das, was die Unzufriedenen umtreibt: Das Ziel ausgeglichener Haushalt nennt sie „Zahlensklaverei“, sie spricht von einem „schleichenden Teufelskreis der Entstaatlichung“ und entschuldigt sich bei den Bürgern förmlich für die Hartz-Gesetze, die Menschen arm gemacht hätten. Die Agenda-Reformen will sie rückabwickeln. Es gehe, sagt Lange, um eine Entscheidung zwischen „neuem Aufbruch oder Weiter so“. Die SPD müsse wieder eine wirklich soziale Partei werden.

Nahles lässt sich nicht darauf ein, ihre Herausforderin zu kritisieren. Wie der Parteitag überhaupt in jedem Moment fair bleibt. Mit einem Ergebnis zwischen 70 und 80 Prozent für Nahles hatten die meisten im Vorstand gerechnet; es wäre ein optimaler Ausgang gewesen. Die Nein-Stimmen, die es sowieso gegeben hätte, hätte man auf den Umstand der Gegenkandidatur geschoben. Nach dem Wahlgang ist in Nahles’ Umgebung davon die Rede, dass das Ergebnis „sehr realistisch die gegenwärtige Lage“ widerspiegele. Ein Drittel der Partei sei ja auch gegen die Große Koalition gewesen und beim letzten Parteitag im Januar in Bonn hätten die gleichen Delegierten sogar nur knapp für die Fortsetzung der Gespräche mit der Union votiert. „Das ist eben die Stimmung momentan.“

Das eine Drittel der Skeptiker zu überzeugen, das wird die Herausforderung. Die wollen gerne richtig linke Politik wie unter einem Parteichef wie Jeremy Corbyn in Großbritannien. Nahles will in die Mitte, da dort die Wahlen gewonnen werden. Neben der Frage nach dem Kurs muss sie Heckenschützen in der Partei bekämpfen.

Und Martin Schulz? Der vom Hof gejagte Nahles-Vorgänger wird in Wiesbaden fast wie früher gefeiert. Er erfährt Dank, Applaus und mitunter unehrliches Schulterklopfen. In einer leidenschaftlichen Rede ruft Schulz seine Partei dazu auf, die internen Konflikte zu überwinden. „Du brauchst den Rücken frei, um dich mit dem politischen Gegner zu beschäftigen – und weniger mit dem, was in der eigenen Partei läuft“, sagt Schulz in Richtung Nahles. „Zorn hat eh keinen Zweck und Bitterkeit hilft nicht in der Politik“, sagt er zu dem Umgang mit ihm. Schulz appelliert, sein europapolitisches Erbe zu retten. Es könne nicht sein, dass die Union jetzt nach ein paar Wochen schon die Pläne in Frage stelle – so gibt es Vorbehalte gegen eine Bankenunion und den Aufbau eines Europäischen Währungsfonds. „Ohne ein starkes Europa werden die Populisten gewinnen“, ruft Schulz den 600 Delegierten zu. „Dann gibt es Krieg.“ Und Herausforderungen, denen sich nun auch Nahles in ihrer neuen Rolle als SPD-Chefin stellen muss.

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