Spanien „Schlechter Scherz“: Katalonien spielt auf Zeit

Madrid/Barcelona · Abspaltung oder nicht? Die spanische Zentralregierung ist ganz und gar nicht zufrieden mit der wachsweichen Antwort aus Barcelona.

Artikel 155 sei die „Bomba atómica“ der spanischen Verfassung, schreibt die Zeitung „El Mundo“. In der seit Wochen schwelenden Krise um die nach Unabhängigkeit strebende Region Katalonien scheint der Einsatz dieser „Atombombe“ nun näher zu rücken. Denn auf ein erstes Ultimatum der Zentralregierung gab der separatistische Regionalpräsident Carles Puigdemont gestern eine für Madrid inakzeptable Antwort. Er sollte sagen, ob er nun vergangene Woche die Unabhängigkeit erklärt hat oder nicht. Seine ausweichende Antwort löste scharfe Kritik aus. „Das ist ein schlechter Scherz!“, schimpfte die renommierte Journalistin Lucía Méndez im Fernsehen.

Gemäß Artikel 155 kann die Zentralregierung die Führung einer autonomen Region entmachten, wenn diese die Verfassung missachtet. Möglich ist auch eine Auflösung des Regionalparlaments, die Übernahme der Kontrolle über alle Behörden und die Absetzung von Spitzenbeamten. Der Aktivierung von Artikel 155 muss der Senat zustimmen – dort hat die konservative Volkspartei PP von Ministerpräsident Mariono Rajoy die Mehrheit.

Bevor es soweit kommt, hat Puigdemont bis Donnerstag um 10 Uhr Zeit, doch noch den Rückwärtsgang einzulegen und die Unabhängigkeitspläne ad acta zu legen. Dann endet das zweite Ultimatum Rajoys. Aber die meisten Beobachter haben diese Hoffnung nun aufgegeben. Artikel 155 sei wohl nicht mehr zu verhindern, sagte Méndez. „Es gibt Grund zur Sorge, vor Spanien liegt ein fürchterlicher Weg.“

Madrid lässt sich nicht in die Karten schauen, spricht bisher nebulös nur von „harten Maßnahmen“. Wie auch immer diese konkret aussehen werden – repressive Maßnahmen hätten in Katalonien vor dem Hintergrund des erstarkten Separatismus wohl einen hohen Preis. Viele warnen vor einer Protestwelle der Befürworter einer Unabhängigkeit. Auch im Madrider Regierungssitz Palacio de la Moncloa herrscht Sorge. Die Onlinezeitung „El Espanol“ zitierte ein Regierungsmitglied mit den Worten, das oft mit Dänemark verglichene Katalonien könne sich in „ein Venezuela“ verwandeln. In dem tief gespaltenen südamerikanischen Land brechen immer wieder gewalttätige Proteste aus.

Die Sorge vor einer Eskalation erklärt auch das vorsichtige Taktieren Rajoys und vor allem Puigdemonts, dem nun viele vorwerfen, auf Zeit zu spielen. Beide Politiker gaben bisher zwar in keinem einzigen Punkt nach, scheuen sich aber auch vor resoluteren Schritten nach vorne. Und sie äußern sich im Vergleich zu vielen anderen eher moderat. „Keiner der beiden will in den Augen der Welt als derjenige dastehen, der die Tür zum Dialog zugeknallt hat“, schrieb gestern die Zeitung „La Vanguardia“.

Rajoy wird von den liberalen Ciudadanos – die vierte Kraft im Madrider Parlament – schon seit Tagen bedrängt, Artikel 155 sofort und ohne Rücksicht auf Verluste zu aktivieren. Und Puigdemont scheut sich davor, den lauten Forderungen seiner linken Verbündeten nachzugeben und die Unabhängigkeit klipp und klar auszurufen. Er ruft Madrid lieber immer wieder zum Dialog auf.

Unzufriedenheit mit der Antwort Puigdemonts wurde gestern nicht nur in der spanischen Hauptstadt und im Ausland laut, sondern auch bei den Verbündeten des Regionalpräsidenten. Die Abgeordnete Mireia Boya von der kleinen linksalternativen Partei CUP, die Puigdemonts Wahlbündnis Junts pel Sí (JxSí) unterstützt, sagte dem Sender Catalunya Ràdio, ihre Partei hätte den Antwortbrief an Rajoy ganz anders formuliert. Sie bestand darauf, die Unabhängigkeit sofort auszurufen. Dies sei die einzige Möglichkeit, um die Zentralregierung zum Dialog zu bewegen, sagte Boya. Dann könne man „immer und über alles verhandeln, sobald man uns als politisches Subjekt anerkennt, sobald wir die Republik ausgerufen haben“. Noch weiter geht die CUP-Stadträtin in Barcelona, Maria Rovira: Sie dringt darauf, dass König Felipe VI. zur „persona non grata“, zur unerwünschten Person, erklärt wird.

Rajoy und Puigdemont versuchen es allen oder zumindest vielen Recht zu machen. Spätestens am Donnerstag müssen sie aber Farbe bekennen. Regionale Neuwahlen wären ein Ausweg, bei dem beide Seiten einigermaßen das Gesicht wahren könnten. Sie scheinen zum jetzigen Zeitpunkt aber eher unwahrscheinlich, da Puigdemont zunächst nachgeben müsste. Nicht nur „La Vanguardia“ ist pessimistisch: „Das Schlimmste kommt noch.“

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